Der Verkäufer und ich starren uns fassungslos an, suchen Halt im Blick des anderen. Denn es hört nicht auf, es werden immer mehr, es wird lauter, kommt näher, so nah, wie er es wohl auch nicht für möglich gehalten hat. Hunderte, wie ich später in den Medien lesen werde, Tausende ziehen auf der anderen Seite des Schaufensters vorbei. Nachdem sie vorher vor dem Reichstagsgebäude, innerhalb der Bannmeile, eine Kundgebung abgehalten haben.
Wir verstecken uns in einem Geschäft. Eine Frau sogar hinter einer Tür, weil sie Angst hat, wir könnten die Vorbeiziehenden mit unseren fassungslosen Blicken provozieren. Die Menschen draußen halten Schilder hoch, auf denen steht »Unser Land zuerst«, sie schwenken schwarze Fahnen mit »Widerstand« in Frakturschrift. Menschen, die nach Hooligans aussehen, Menschen, die nach Mitte der Gesellschaft aussehen, die der Regierung »das Gas abdrehen« wollen, die ihr Land »zurückerobern« wollen, die einen »heißen Herbst« beschwören.
BÜRGERSTEIG Wir sehen keine Gewalt, aber wir spüren sie, denn die Menschen da draußen machen deutlich, dass die Straße ihnen gehört. Ihnen allein. «Warum gehen die auch auf dem Bürgersteig? Das dürfen die nicht«, sagt der Verkäufer. Draußen ist eine Sirene zu hören, aber die gehört den Demonstranten, nicht der Polizei. Von der sehen wir wenig. Zweimal innerhalb einer Stunde gehen Beamte am Fenster entlang, machen den Demonstranten Platz.
Trommler ziehen vorbei, einmal ein Wagen mit einem alten Mann, der mit Hohn in der Stimme das Ende des herrschenden Systems beschreibt. Damit meint er die deutsche Demokratie. Höhnisch sind auch Blicke von Menschen, die uns im Laden entdecken. Zweimal geht der Verkäufer in Richtung Tür. Ich frage mich, ob er abschließen wird.
»Das ist geschäftsschädigend«, sagt die Frau hinter der Tür im hinteren Teil des Geschäfts, und meint die Cafés, die die Friedrichstraße säumen, vor denen niemand mehr zu sitzen wagt. »Ich wünschte, es würde regnen«, sagt der Verkäufer. Zweimal versuche ich, uns abzulenken und einzukaufen – der Grund, warum ich gekommen bin. »Übersprungshandlung«, denke ich, und der Verkäufer und ich geben schnell wieder auf.
Manchmal sind Lücken in dem Demonstrationszug, und wir entspannen uns kurz. »Jetzt hört es endlich auf.« Aber dann kommt der nächste Pulk mit noch mehr Fahnen, deren Bedeutung ich erst googeln muss, und deren Parolen sich als perfide Geschichtsverzerrung oder auch eklatanter Revisionismus entpuppen.
UNBEHAGEN Ich spüre ein tiefes Unbehagen in mir aufsteigen, das sich aus der Theorie in die Praxis kämpft, aus der Vergangenheit in die Gegenwart: Ich kann mich nicht frei bewegen, weil da draußen Menschen in der Überzahl sind, die Menschen, die anders denken als sie, nicht tolerieren. Die mit Identität Politik machen. Die es gut finden, wenn ihre Anführer die Nazizeit als »Vogelschiss« in 1000 Jahren deutscher Geschichte beschreiben, die mit größter Aggression provozieren, um sich im nächsten Augenblick selbst als Opfer zu gerieren. Die den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine als Verteidigung deklarieren, die «die Machtfrage” stellen wollen.
»Sie waren nie weg, sie waren immer da«, darauf einigen wir uns, der Verkäufer und ich. Als ich auf mein Handy blicke, sehe ich, dass meine Hände zittern. Als ich das Geschäft endlich verlassen kann, habe ich Herzrasen. Als ich endlich zu Hause ankomme, verlangt mein Mann, dass wir einen Flex-Flug nach Israel buchen. Und ich fühle mich so hilflos wie noch nie in Deutschland.