In der Auseinandersetzung um die abgesagte Rede von Omri Boehm zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald haben er und die israelische Botschaft eines gemein: Im Zentrum der Debatte steht Omri Boehms Kritik an Israel. Keine Aufmerksamkeit erhält die politische Situation in Thüringen und die akute Bedrohung durch den Rechtsextremismus.
Zur Erinnerung: Bei den Landtagswahlen im September 2024 wurde die AfD mit knapp 33 Prozent der Stimmen mit Abstand stärkste Kraft in Thüringen. Bei der Bundestagswahl im Februar 2025 erhielt sie bereits 39 Prozent.
Insbesondere in Thüringen ist die AfD für ihren Rechtsextremismus und ihre Nähe zur Neonazi-Szene bekannt. Die Daten der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Thüringen zeigen, dass Geschichtsrevisionismus – also die Verherrlichung, Verharmlosung, Umdeutung oder Leugnung der Verbrechen des NS gegen Jüdinnen und Juden – die mit Abstand häufigste Form antisemitischer Vorfälle ist. Der Aussage »Es wird immer nur von der Judenverfolgung geredet. Wie die Deutschen gelitten haben, davon redet niemand« stimmten noch vor zwei Jahren 39 Prozent der Thüringer Befragten zu.
Die AfD nährt sich von diesem Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus. Björn Höcke, deutscher Faschist und Vorsitzender der Thüringer AfD, forderte etwa eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad«. Heute, 80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, muss man sich ernsthaft die Frage stellen, ob der 90. Jahrestag dieser Befreiung in Thüringen überhaupt noch gefeiert wird, oder ob dann eine AfD-Regierung ein SS-Heldengedenken ausrichten wird.
Boehm hat zum deutschen Rechtsextremismus nichts zu sagen
Die deutsche Erinnerungspolitik steht enorm unter Druck, nicht zuletzt durch den Geschichtsrevisionismus der AfD. Omri Boehm jedoch hat nichts zum deutschen Rechtsextremismus zu sagen. Das Einzige, was ihm zur AfD einfällt, ist, diese mit den wechselnden Regierungen Israels gleichzusetzen.
Nun ist Omri Boehm vor allem ein Kritiker nicht der deutschen, sondern der israelischen Erinnerungspolitik. Wenn er das Gedenken an den Holocaust als »goldenes Kalb« bezeichnet, polemisiert er gegen Erinnerungspolitik in Israel, nicht in Deutschland. Gleichsetzungen seiner Kritik mit dem deutschen »Schuldkult«-Geschwafel gehen deshalb fehl. Diese Unterscheidung ist wesentlich, denn im Nachfolgestaat der Verfolger steht das Erinnern vor anderen Herausforderungen als im Nachfolgestaat der Verfolgten. Gerade Omri Boehm ist es jedoch, der diesen Unterschied im Rahmen eines freischwebenden Universalismus einebnen möchte. Folglich interessiert ihn die Spezifik der dramatischen Situation in Thüringen nur peripher.
Dieses intellektuelle Desinteresse an den Thüringer Zuständen findet sich nicht nur bei Boehm: Am 9. November 2022 hörte ich im Deutschen Nationaltheater in Weimar einen Vortrag von Aleida Assmann, in dem sie die Errungenschaften der bundesdeutschen Erinnerungskultur pries – ohne mit auch nur einem Wort auf 45 Jahre DDR oder die auch damals schon akute Bedrohung durch rechten Terror einzugehen.
Die komplexe Realität vor Ort steht quer zu den vereinfachten Narrativen über die Probleme von Erinnerungspolitik in Deutschland.
Im März 2024 lauschte ich dann Deborah Feldmann bei der Vorstellung ihres Buches »Judenfetisch« bei der Erfurter Herbstlese – versprochen wurde eine »kritische Analyse der jüdischen Gegenwart«, diskutiert wurde über jüdische Identitäten in Deutschland und das Verhältnis Deutschlands zu Israel. Es gab zwar kritische Fragen aus dem Publikum, weder Feldmann noch ihr Publikum erwähnten jedoch die AfD mit nur einem Wort – als hätte die Bedrohung durch die AfD und ihre Anhänger nichts mit der jüdischen Gegenwart in Thüringen zu tun.
Vor dem Hintergrund der Forderung einer Universalisierung der Erinnerung an die Schoa ist es nur konsequent, dass die Spezifika, in denen Erinnerungsarbeit hier und heute in Thüringen stattfindet, wenig Aufmerksamkeit erfahren. Prominente Israelkritikerinnen und -kritiker wie Assmann, Feldmann oder Boehm interessiert die Situation in Thüringen nicht – denn die komplexe Realität vor Ort steht quer zu den vereinfachten Narrativen über die Probleme von Erinnerungspolitik in Deutschland.
Komplexität zuzulassen hieße, bei jeder Kritik an der Erinnerungspolitik und der israelischen Regierung die deutsche Sehnsucht, die Vergangenheit zu verdrängen und Juden zu Tätern zu erklären, mitzudenken. Denn natürlich ist nicht jede Kritik an Israel und der Erinnerungspolitik antisemitisch – aber sie findet vor dem Hintergrund eines immer lauter werdenden antisemitischen Grundrauschens statt.
Die Einladung Boehms wirkte wie ein politisches Zeichen
Doch auch die israelische Botschaft hat gezeigt, dass sie sich für die Situation in Thüringen wenig interessiert. Sonst hätte sie gewusst, wie unklug es ist, ausgerechnet Jens-Christian Wagner Geschichtsklitterung vorzuwerfen. Durch ihre Versuche, den Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora zu diskreditieren, hat die Botschaft dem Kampf gegen Antisemitismus einen Bärendienst erwiesen.
Wagner engagiert sich nicht nur seit Jahren gegen Geschichtsrevisionismus in Thüringen, sondern wird dafür auch mit dem Tod bedroht. Im Rahmen des sogenannten »Historikerstreits 2.0« positionierte Wagner sich kritisch gegen Claudia Roths Reformpläne, die NS-Verbrechen stärker im Kontext von Kolonialverbrechen zu verorten. Er plädierte für wissenschaftlich fundierte statt interessengeleitete Erinnerungsarbeit.
Doch so wichtig Wissenschaftlichkeit in Erinnerungsarbeit auch ist: Wenn ein radikaler Kritiker der israelischen Politik wie Boehm zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds als Redner eingeladen wird, obwohl dieser sich wenig für die gegenwärtigen Herausforderungen von Erinnerungspolitik in Deutschland interessiert, entsteht der Eindruck, man nutze dieses Jubiläum, um ein politisches Zeichen gegen die gegenwärtige israelische Politik zu setzen. Es ist nicht verwunderlich, dass die israelische Botschaft in der Einladung einen Affront sah.
Jens-Christian Wagner hätte Verantwortung übernehmen müssen, indem er etwa selbstkritisch eingesteht, dass die polarisierende Einladung ein Fehler war. Nach dem undiplomatischen Vorgehen der Berufsdiplomaten der Botschaft verzichtete aber auch Wagner auf Diplomatie und gab die Schuld für das Debakel allein der Botschaft.
Den Schaden tragen nicht zuletzt die Juden in Thüringen: Einerseits, weil Wagners Behauptung, allein wegen Kritik der israelischen Botschaft habe man Boehm nicht sprechen lassen können, Wasser auf die Mühlen der Antisemiten ist. Andererseits ist nun zu erwarten, dass Thüringer Geschichtsrevisionisten sich auf die israelische Botschaft berufen werden, wenn es darum geht, die wichtige Arbeit von Jens-Christian Wagner zu diskreditieren.
Der Autor promoviert in Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. In seinem Dissertationsprojekt geht es um Antisemitismus im Werk Johann Gottlieb Fichtes.