In der russischsprachigen Bevölkerung in Deutschland gehört es zum guten Ton, sich als »apolitisch« zu bezeichnen. Über die Bemühungen der AfD um die »Russlanddeutschen« und Juden aus der Ex-Sowjetunion kann ich deswegen nur lachen – sie sind peinlich und realitätsfern.
Ihr Erfolg unter »unseren Leuten«, wie wir uns auf Russisch nennen, hat mit der Partei selbst nur wenig zu tun. Die russischsprachigen Juden interessieren sich ebenso wenig für Abgrenzungsversuche von Nazis wie die russlanddeutschen Wähler für die AfD-Haltung zu Putin. Die Sympathien für den rechten Populismus haben wir alle aus der alten Heimat mitgebracht.
ehrfurcht Die Gründe sind einfach. Erstens teilen wir eine Ehrfurcht vor dem »weißen Europa« und den Glauben an dessen zivilisatorische Überlegenheit. Zweitens wurde die Einführung der Demokratie und Proklamation ihrer Werte in der alten Heimat für den allumfassenden Niedergang der 90er-Jahre missbraucht, vor dem wir damals nach Deutschland geflohen sind.
Klagen über drohende Altersarmut (in der unsere jüdischen Senioren längst leben), sinkende Reallöhne und Wohnungsnot kommen uns daher allzu bekannt vor.
vertrauen Die Auswirkungen der Politik der letzten Jahrzehnte rauben vielen das Vertrauen in die Zukunft, und die syrischen Flüchtlinge scheinen die Reste des »alten Europa« zu gefährden. Die Schuld bei den demokratischen Werten zu suchen, ist da fast schon natürlich – das fußt nämlich auf unseren kollektiven Erfahrungen.
Doch nichts könnte falscher sein. Denn im Gegensatz zur Ex-UdSSR ist die Demokratie hier keine Fassade, sondern funktioniert. Die hiesige »heile Welt« ist nur durch den demokratischen Grundkonsens möglich. Ohne diesen Konsens bekommen wir nicht die versprochene europäische Stabilität, sondern Chaos und Barbarei, vor denen wir wieder auswandern müssten. Eine apolitische Haltung können wir uns also nur leisten, solange die AfD und andere Rechtspopulisten nicht noch stärker werden.
Der Autor ist Historiker in Freiburg.