Auch mehr als drei Wochen nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten ist der Hintergrund der Tat noch nicht völlig aufgeklärt, und es wird weiterhin über die Konsequenzen des Gewaltverbrechens diskutiert. In der Nacht zum 2. Juni war Walter Lübcke mit einer Schussverletzung am Kopf auf der Terrasse seines Wohnhauses im hessischen Wolfhagen-Istha entdeckt worden und wenig später gestorben.
In seiner Heimatstadt nahmen am Samstag mehrere hundert Menschen an einer Mahnwache teil. In Kassel folgten am gleichen Tag rund 2000 Menschen dem Aufruf eines Bündnisses aus Parteien, Gewerkschaften und lokalen Organisationen. Die Anteilnahme ist groß. Auch an diesem Donnerstag soll es eine Großkundgebung in der nordhessischen Stadt geben.
Wirken »Die Menschen in Kassel sind sehr betroffen.« Mit diesen Worten fasst Ilana Katz, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Kassel, die Stimmung zusammen. »Er war ein humorvoller, sympathischer und kluger Mensch«, erinnert sie sich. Und die ehemalige langjährige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Esther Haß, meint: »Er hat durch sein Wirken überall Steine aus dem Weg geräumt und die Region gut bei der Landesregierung vertreten.« Dabei sei er stets ein Freund der jüdischen Gemeinschaft gewesen. »Er war wie ein Vater und Berater«, erinnert sich Haß.
Die rechtsextremen Strukturen in der Region haben sich grundlegend gewandelt.
Walter Lübcke hatte im Jahr 2015 im Auftrag der Landesregierung beherzt die Aufnahme tausender Geflüchteter in Nordhessen organisiert. »Das war eine Ausnahmesituation, die ihn und seine Mitarbeiter über Nacht mit einer großen Herausforderung konfrontieren sollte«, erzählt Miki Lazar, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Kassel. »Er war dabei stets sehr besonnen, benannte Probleme und kümmerte sich um Lösungen.«
Bei kurzfristig einberufenen Bürgerversammlungen, die es damals wegen der Einrichtung von Notunterkünften für Geflüchtete gab, stand Lübcke häufig persönlich Rede und Antwort. »Es gab damals schon Ängste bei einzelnen Bürgern, auf die wir reagieren mussten«, erinnert sich einer der engsten Mitarbeiter Lübckes, sein Pressesprecher Michael Conrad.
Attentat Nun spricht der Generalbundesanwalt von einem »politischen Attentat«. Dringend tatverdächtig ist der 45-jährige Stephan E., der laut Bundeskriminalamt bereits eine »lange Latte von Straftaten« begangen hat. Diese reicht bis in die 80er-Jahre zurück. Unter anderem legte er 1989 demnach ein Feuer im Keller eines Mehrfamilienhauses im hessischen Aarbergen-Michelbach. Das Haus war überwiegend von türkischen Staatsbürgern bewohnt.
Nach Behördenangaben hat sich Stephan E. nach 2009 mit rechtsextremistischen Aktivitäten öffentlich zurückgehalten. Die Ermittler prüfen allerdings, ob er auch noch in den vergangenen Jahren Kontakte in die rechte Szene in Nordhessen hatte. Aktiv gewesen sind in der Region etwa die militante Gruppe »Combat 18« und der 2015 verbotene Verein »Sturm 18«.
Szene Ungeklärt ist bislang, wie gefährlich die rechtsextreme Szene in Nordhessen tatsächlich ist und ob der mutmaßliche Mörder Stephan E. Mittäter und Helfer hatte. Viele fühlen sich bei der Suche nach Antworten an den Tod von Halit Yozgat erinnert, der 2006 vom rechtsterroristischen NSU in Kassel ermordet wurde.
»Wir gehen davon aus, dass es in Kassel ein NSU-Unterstützernetzwerk gab«, erklärt Malte Lantzsch vom Mobilen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus (MBT Hessen). Auch heute sind in Nordhessen zahlreiche Neonazis aktiv, die das Ziel verfolgen, die Regierung zu stürzen und politische Gegner nicht nur einzuschüchtern, sondern sogar zu ermorden.
»Wir gehen davon aus, dass es in Kassel ein NSU-Unterstützernetzwerk gab«, erklärt das Mobile Beratungsteam gegen Rechtsextremismus.
Die rechtsextremen Strukturen in der Region haben sich allerdings nach Beobachtung des Demokratiezentrums Hessen an der Universität Marburg grundlegend gewandelt. »Die Szene ist deutlich heterogener und weniger transparent als noch vor einigen Jahren«, stellt dessen Leiter Reiner Becker fest.
Ob Polizei und Verfassungsschutz ihre Beobachtungsmuster an die neuen Gegebenheiten angepasst haben, vermag der Experte nicht zu beurteilen. »Es kann sein, dass man noch zu häufig die klassischen rechtsextremen Organisationsformen ins Raster nimmt, und dann fällt mancherorts womöglich vieles nicht auf«, befürchtet Becker.
Offenkundig sei indes, dass seit 2015 Lokalpolitiker einer stärkeren Gefährdung durch Rechtsextremisten ausgesetzt sind. »Das nimmt man seitens der Sicherheitsbehörden sehr ernst«, betont Becker. Die Lage scheint sich dabei zumindest punktuell und kurzfristig eher zuzuspitzen.
Polizeischutz So steht neuerdings mindestens ein hessischer CDU-Politiker unter Polizeischutz, berichtet eine Parteifreundin Lübckes der Jüdischen Allgemeinen. Nach einer kritischen Stellungnahme zur Mitverantwortung von AfD-Funktionären am Tod des beliebten CDU-Manns habe es ihm gegenüber massive Morddrohungen gegeben.
Auch die alltäglichen Anfeindungen und Bedrohungen gegen demokratische Akteure der Zivilgesellschaft nehmen laut Becker massiv zu. »Wir hatten 2018 in Hessen doppelt so viele Beratungsanfragen von Betroffenen wie noch im Vorjahr.«
Am Mittwochvormittag wurde vermeldet, dass Stephan E. den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gestanden habe. Das berichteten mehrere Teilnehmer einer nicht-öffentlichen Sondersitzung des Innenausschusses des Bundestages. Den Angaben zufolge legte er am Dienstag ein Geständnis ab. Er habe angegeben, alleine gehandelt zu haben. Die Frage nach dem Motiv blieb zunächst offen. (mit dpa)