haiti

Davids Schild

Wenn man in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince durch das halb geöffnete Eisentor in den In- nenhof des einst wuchtigen vierstöckigen Gebäudes der Steuerbehörde schaut, sieht man eine riesige Geröllhalde. Vor dem Tor parken mehrere Mietfahrzeuge, Aufkleber von Magen David Adom (MDA) und Zahal sind darauf gepappt. Die Helfer des »Roten Davidschilds« und der israelischen Armee haben ein Seil gespannt, mit dem sie sich in die Höhe hangeln. »Endlich haben wir Kontakt zu einem Überlebenden hergestellt«, erklärt Eric Fedida vom MDA die Situation. Erst vor ein paar Stunden sind er und andere Helfer in Haiti gelandet. Nun haben Spürhunde einen Überlebenden ausgemacht – in einem Hohlraum, der einmal das dritte Stockwerk des Finanzamts war.

Vorsichtig graben sich die Männer mit den gelben Schutzhelmen und der israelischen Armeeuniform durch das Gewirr aus Moniereisen und fast pulverisiertem Beton. Eine gefährliche Arbeit. Noch immer zittert die Erde im »Land der Berge«, wie die Taíno-Ureinwohner die zweitgrößte Karibikinsel Hispaniola nannten, schrecken kleinere Nachbeben die Menschen auf und lassen sie schreiend und gestikulierend auf die Straßen laufen. Die Retter mit der Kippa schreckt das nicht. »Wir haben schon in einigen Ländern mit unserer Katastrophenerfahrung und unseren Suchhunden geholfen«, sagt Fedida. »Aber was ich hier sehe, ist schon sehr schlimm.«

schreie Eigentlich war schon Feierabend im Finanzamt von Port-au-Prince, als am Dienstag der Vorwoche die Erde zitterte. Um 16.53 Uhr (22.53 Uhr deutscher Zeit) begann das Beben, beugten sich die Bäume, drangen Schreie von verzweifelten Menschen durch die Stadt.

Nachmittags, kurz vor fünf Uhr, drängen sich gewöhnlich Tausende Menschen rund um den Marché du Fer, den größten Markt der Stadt. Sie wollen sich auf dem Heimweg mit Gemüse und Obst eindecken oder zwischen den unzähligen kleinen Marktständen nach Schnäppchen in den Gebrauchtkleiderstapeln und Billigschuhangeboten suchen.

Altagrace Nazé verkaufte wie jeden Tag an der Ecke von Rue du Centre und Rue des Miracles Billigkleidung. Reich wurde die Familie nicht, aber es genügte für den Lebensunterhalt der Mutter eines dreijährigen Sohnes, für warme Mahlzeiten und Bekleidung. Auf der Straße vor dem Stand der 22-jährigen Frau priesen junge Männer und Frauen mit »dlo, dlo«-Rufen kleine Plastiktüten mit eingeschweißtem Wasser an, Frauen balancierten große Weidenkörbe mit Korianderbüschel und Möhren auf ihren Köpfen, und junge Männer versuchten, Kurzwaren, Kaugummi oder Baguettebrötchen zu verkaufen.

80 Prozent der neun Millionen Einwohner Haitis leben von täglich weniger als 1,40 Euro, die Hälfte muss sich sogar mit nur 70 Cent begnügen. Haiti, die einstige »Perle der Karibik«, ist schon lange das Armenhaus Lateinamerikas.

»Die Erde begann zu zittern, die Stände hüpften regelrecht in die Höhe«, berichtet Altagrace Nazé. Plötzlich spürte sie einen heftigen Schlag am Kopf, Gesteinsbrocken flogen durch die Luft. Taumelnd sprang die junge Frau mitten auf die Kreuzung. Mauern stürzten mit lautem Getöse in sich zusammen, ganze Straßenzeilen kollabierten durch die Erschütterung, die in einer Entfernung von rund 15 Kilometern von Port-au-Prince ausgelöst wurde. Mit dem Beben der Stärke 7 schien die Welt um die junge Frau unterzugehen.

Wie durch ein Wunder entging Nazé dem Schicksal derer, die neben ihr saßen. »Alle Marktfrauen rechts und links von mir sind erschlagen worden«, sagt sie mit um Fassung ringender Stimme. Immer wieder schaut sie sich ängstlich um. »Was soll ich jetzt machen? Ich habe alles verloren.« Auch eine Woche nach dem Beben ist Nazé noch völlig verstört und traumatisiert. Immer wieder beginnt sie zu wimmern, rinnen Tränen ihre Wangen herunter. »Es ist ein Wunder, dass ich überlebt habe«, stammelt sie, »Gott hat mich gerettet.«

An der Straßenecke kann die junge Witwe drei Männer beobachten, die mit einer Milchpulverdose in den Trümmern eines Eckhauses nach Verwertbarem graben. In einer Ecke schwelt ein Feuer, davor sieht man eine Leiche, die zu schwarzer Masse verbrannt ist, aus der ein Armknochen spitz gen Himmel zeigt.

verwüstung Hunderttausende haben in Port-au-Prince ihre Unterkünfte verloren, Zehntausende sind tot, die Regierung spricht von mehr als 100.000 Todesopfern – es können auch viel mehr sein. Unzählige wurden bereits in Massengräbern bestattet. Port-au-Prince ist zur Hälfte, die südliche Kleinstadt Jacmel zu 70 Prozent zerstört, und in der Küstenstadt Petit Goâve sind manche Stadtviertel völlig dem Erdboden gleichgemacht.

Auch das Regierungsviertel in der Innenstadt von Port-au-Prince bietet ein Bild der Verwüstung. Fast alle Häuser sind in sich zusammengebrochen. Minister liegen unter den Trümmern ihrer Amtsgebäude – der haitianische Staat hat de facto aufgehört zu existieren. Selbst der Präsidentenpalast ist zerstört. Den Staatschef René Préval haben nur die riesigen grün getönten, kugelsicheren Scheiben davor bewahrt, Opfer des Bebens zu werden.

Die Häuser, die in dem Innenstadtkarree zwischen Meer und dem Marsfeld noch stehen geblieben sind, haben große Risse und sind einsturzgefährdet. Wohnen wird hier auf lange Zeit unmöglich sein. Auch in anderen Stadtvierteln verlassen die Menschen ihre Hausruinen. Sie ziehen zu Verwandten im Norden des Landes, oder sie versuchen, ein Visum für die Einreise nach Kanada oder in die USA zu erhalten.

In Port-au-Prince arbeiten die israelischen Rettungskräfte seit Stunden im Schutt des Gebäudes der Steuerbehörde. Gelbe Hydraulikpressen stützen die Decke ab, damit von oben nicht weitere Schuttmassen nachrutschen und die Betondecke auch noch die Retter erschlägt. »Wir müssen sehr vorsichtig graben, jeden Moment können weitere Steine herunterbrechen und uns und das Opfer gefährden«, sagt Eric Fedida, der MDA-Mitarbeiter, während er einen Moment am Eingangstor ausruht und eine Zigarette raucht. »Wir haben Kontakt zu ihm, und unsere Sanitäter haben ihn inzwischen mit Wasser und Medikamenten versorgen können.«

Fast 250 Ärzte, Rettungskräfte und Mitarbeiter des Außenamtes hat Israel in das Katastrophengebiet geschickt – schon einen Tag nach Bekanntwerden der Katastrophe. Sie sollen Verschüttete retten und Tote aufspüren, damit sie im Rahmen der Aufräumarbeiten geborgen werden können. Rettungseinheiten des jüdischen Staates gehören meist zu den ersten, die in Katastrophengebieten eintreffen. Bereits wenige Stunden nach ihrer Ankunft hatten die Helfer das erste funktionsfähige Feldkrankenhaus Haitis geschaffen.

Gegründet wurde die Rettungseinheit 1982, als im Libanon bei einem Bombenanschlag auf ein Polizeihauptquartier 50 Menschen starben und israelische Spezialisten zu Hilfe eilten. Seit dieser Zeit haben die Israelis unzählige Male ihre Hilfsbereitschaft unter Beweis gestellt: Ob in Kenia ein Gebäude zusammenbrach, in Italien, am Bosporus oder in Indien die Erde bebte, sie sind als professionelle Helfer überall auf der Welt willkommen.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte: »Als jüdischer Staat ist es unsere Verpflichtung, sofort Hilfe zu mobilisieren. Und das haben wir getan. Obwohl wir ein kleines Land sind, haben wir mit großem Herzen reagiert. Es ist jüdische Ethik, unseren Mitmenschen zu helfen.« 15 Mediziner und Logistiker schickte IsraAID los, das israelische Forum für internationale humanitäre Hilfe. »Es ist fürchterlich, kein Doktor in Sicht, die Menschen sind verletzt und hungrig. Und es kommen immer mehr«, erzählt Alan Schneider, der ebenfalls hilft, wo es geht.

Die Zahal-Delegation besteht aus einem medizinischen Team, darunter 40 Ärzte, dazu die Spezialisten von Oketz, der Suchtrupp mit seinen Spürhunden, sowie Mitglieder von MDA und Polizei. Auch die freiwilligen Volontäre von ZAKA sind dabei. Nach 38 Stunden Arbeit am Stück unter schwierigsten Bedingungen befreiten die sechs Männer acht Studenten aus einem zusammengebrochenen Universitätsgebäude. Der Leiter der Delegation, Mati Goldstein, schaffte es, eine E-Mail nach Hause zu schicken: »Es war ein Schabbat wie aus der Hölle. Überall hängt Verwesungsgestank in der Luft. Es ist hier so wie in den Geschichten über den Holocaust, Tausende von Körpern überall. Die Situation ist schlichter Wahnsinn. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr Körper werden es, in Zahlen, die man nicht mehr aufnehmen kann. Es geht über den Verstand hinaus.« Die strengreligiösen Männer von ZAKA zögerten nicht, am Schabbat nach Haiti zu reisen und betonten anschließend, »es ist uns eine Ehre, den Schabbat zum Lebenretten zu entweihen«.

rettung Der süßliche Geruch des Todes wird von Stunde zu Stunde unerträglicher. Überlebende, die auch sechs Tage nach dem fürchterlichen Beben auf der Suche nach noch lebenden Verwandten durch die Straßen irren, suchen sich notdürftig mit Tüchern und unter die Nase geschmierter Zahnpasta des Gestanks zu erwehren.

Plötzlich entsteht Unruhe, ein Sanitäter rennt den Schutthaufen herunter, um weitere Spritzen und Medikamente zu holen. Jetzt versucht ein israelischer Retter, sich kriechend in den Hohlraum zu zwängen. Ein Zahal-Offizier gestattet einen letzten Blick auf den Hof der Steuerbehörde, dann brauchen die Rettungskräfte Ruhe. Soldaten mit Schnellfeuergewehren drängen alle, die hier nicht gebraucht werden, ab. Vor dem Tor weht auf einem gemieteten Jeep die blauweiße Fahne Israels mit dem Davidstern. Drinnen kämpfen die Ärzte um das Leben des Verschütteten, der noch immer in dem Hohlraum eingeschlossen ist. Stunden später ist er frei.

(Mitarbeit: Sabine Brandes)

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