Österreichs Regierung hat jüngst die Dokumentationsstelle Politischer Islam in Wien ins Leben gerufen. Sie soll die oft verschlungenen Strukturen der Fundamentalisten untersuchen und ihr Vorgehen analysieren. Der deutsch-libanesische Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide (49) den Vorsitz des wissenschaftlichen Beirats übernommen. Der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Uni Münster ist einer der renommiertesten Verfechter eines liberalen, aufgeklärten Islam. Im Interview spricht Khorchide über die Ziele des Politischen Islam und plädiert für mehr Wachsamkeit auch in Deutschland.
Herr Khorchide, warum gründet die österreichische Regierung eine Dokumentationsstelle gegen den Politischen Islam?
Die Aufmerksamkeit in Europa galt lange fast ausschließlich dem islamistischen Terror oder offen extremistischen Gruppen wie den Salafisten. Der legalistische Islamismus beziehungsweise Politische Islam wurde dagegen übersehen, weil er weniger gefährlich wirkt - aber gerade das macht ihn ja so gefährlich! Hinzu kommt, dass er viel größer und besser organisiert ist als etwa salafistische Vereine. Österreich ist eines der ersten Länder in Europa, das die Bedrohung der freien Gesellschaft durch den Politischen Islam erkannt hat. Die ÖVP von Bundeskanzler Sebastian Kurz legt hier den Finger in eine Wunde und hat die Dokumentationsstelle im Koalitionsvertrag mit den Grünen verankert.
Können Sie den Begriff Politischer Islam näher definieren?
Es handelt sich um eine Ideologie, die den Islam nicht als spirituelle Angelegenheit des Einzelnen sieht, sondern als Herrschaftssystem, mit der Absicht, die Gesellschaft entsprechend solchen Werten umzugestalten, die im Widerspruch zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. Ihre Vertreter geben sich nach außen verfassungstreu. Sie verurteilen Gewalt, befürworten Integration und die Teilnahme der Muslime am gesellschaftlichen Leben. Aber nach innen predigen sie die Abgrenzung von den »Ungläubigen« und ihren »unislamischen Werten«. Ihre politische Agenda läuft darauf hinaus, die Gesellschaft zu unterwandern, indem sie Einfluss in Parteien, Gremien, Stiftungen gewinnen. Oft bestehen enge Verbindungen in die Herkunftsländer.
Was sind die Ziele?
Dem Politischen Islam geht es um Herrschaft und Macht, um seine Vorstellung vom Islam auszubreiten, dabei geht es meist um archaische und patriarchalische Werte, die als islamische angesehen werden. Unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit fordern sie deshalb vom Staat immer mehr Sonderrechte und versuchen gezielt, die Anpassung von Muslimen an die westliche Kultur zu verhindern. Letztes Ziel ist die Umwandlung Europas in ein islamisches System, so utopisch das klingt.
Schürt man nicht rechtspopulistische Schreckbilder, wenn man diese Gefahr so hervorhebt?
Es bringt nichts, die Bedrohung durch den Politischen Islam aus falscher Toleranz kleinzureden. Damit verschiebt man die notwendige Auseinandersetzung nur. Der Politische Islam in Europa wird fordernder und stärker. Vor der Kommunalwahl in NRW kam etwa ans Licht, dass eine Reihe von Kandidaten quer durch die etablierten Parteien diesem Spektrum angehörte. Und in den Schriften von Hasan al-Banna (ermordet 1949, Anm. d. Red.), als Gründer der Muslimbrüder eine Schlüsselfigur, können Sie nachlesen, dass es genau um die beschriebene Strategie geht. Die Gefahr ist real.
Inwiefern?
Natürlich muss man unterscheiden zwischen Islamisten und Muslimen, die ihren Glauben konservativ leben, aber als Privatsache verstehen und keine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Gesellschaft sind. Das gehört zu meinen Aufgaben als Leiter des wissenschaftlichen Beirats der Dokumentationsstelle. Indem wir hier differenzieren, können wir den Alarmismus von Rechtspopulisten auch ein Stück weit entkräften. Man darf sich aber nicht von der Strategie der Islamisten einschüchtern lassen, die jede Kritik an ihnen mit Schlagwörtern wie »Islamophobie« und »antimuslimischer Rassismus« mundtot machen und als Kritik am Islam an sich hinstellen wollen.
Wer sind die Akteure des Politischen Islam?
In Europa sind es vor allem die arabisch geprägten Muslimbrüder und türkisch-nationalistische Organisationen. Die Muslimbrüder haben ein verzweigtes Netz an Vereinen aufgebaut und agieren eher im Hintergrund. Direkte Bezüge sollen möglichst verschleiert werden. Die türkischen Akteure wie Teile von Milli Görüs oder die Grauen Wölfe treten lauter auf. Sie sind oft eng mit der Erdogan-Regierung verbunden, die ihren Einfluss auf die Türken in Europa verstärken will. Sie fördern ein rückwärtsgewandtes Islamverständnis und instrumentalisieren die Religion als polarisierendes Element, um die Integration von Türken in Europa zu sabotieren. Inzwischen nähern sich die türkischen Nationalisten den Muslimbrüdern an, mit denen Erdogan sympathisiert.
Ist - zugespitzt formuliert - organisierter Islam gleich Politischer Islam?
So pauschal würde ich es nicht sagen. Es mangelt aber zuweilen an der notwendigen Abgrenzung. Wenn die türkische Ditib, die zum Teil von Ankara gesteuert wird, Muslimbrüder zu einer Konferenz nach Köln einlädt, ist das bedenklich. Einzelne Mitgliedsorganisationen im Zentralrat der Muslime in Deutschland wurden vom Verfassungsschutz beobachtet, zuletzt die türkisch-nationalistische ATIB. Es gilt immer zu prüfen, wo legitime religiöse Interessenvertretung aufhört und Politischer Islam anfängt.
Etwas Vergleichbares wie die österreichische Dokumentationsstelle gibt es in Deutschland nicht, oder?
Hier überlässt man das Thema mehr oder weniger den Sicherheitsbehörden. Das halte ich für falsch, denn gerade in Deutschland ist der Politische Islam schon in die Mittelschicht vorgedrungen. Die Zivilgesellschaft muss sich damit auseinandersetzen und aufklären. Die Strukturen sind noch zu wenig erforscht und im Verfassungsschutzbericht taucht immer nur die Spitze des Eisbergs auf. Es ist besonders im Interesse jener Muslime, die sich für einen aufgeklärten Islam stark machen, dass diese Strömung entlarvt wird.
Das Interview mit dem Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Uni Münster führte Christoph Schmidt.