Vor wenigen Tagen haben wir in der Frankfurter Paulskirche den 70. Jahrestag des Grundgesetzes gefeiert. Dabei wies Oberbürgermeister Peter Feldmann zu Recht darauf hin, dass wir auf unser Grundgesetz stolz sein können. An dieser historischen Stätte habe ich einige Gedanken zu dem darin verankerten Grundsatz der »ungestörten Religionsausübung« geäußert, die ich hier wiederholen möchte.
Nie beziehungsweise nie wieder, so sind die Väter und Mütter der Verfassung zu verstehen, darf in diesem Land ein Mensch wegen seiner religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung benachteiligt, verfolgt oder gar ermordet werden. Der Staat hat die Pflicht, Religionen und die nach ihnen lebenden Menschen zu schützen.
symbole Das sollte bei allen Diskussionen um staatlich anerkannten Religionsunterricht, Rücksicht auf Einhaltung religiöser Riten und Feiertage oder Bewahrung der Sonntagsruhe beachtet werden. Und das gilt auch für das Tragen von religiösen Symbolen wie der Kippa.
Ich trage Kippa, weil es für mich selbstverständlicher Ausdruck meiner religiösen Identität ist.
Ich trage Kippa. Jeden Tag, überall. Nicht weil ich Rabbiner bin, sondern weil es für mich selbstverständlicher Ausdruck meiner religiösen Identität ist. So beobachte ich die erneute »Kippa-Debatte« der vergangenen Tage mit gemischten Gefühlen. Einerseits lese ich, was der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein gesagt hat. Dass Juden nicht mehr jederzeit und an jedem Ort das Tragen der Kippa zu empfehlen ist, ist eigentlich nicht neu, sondern traurige Realität. Nicht nur in Deutschland.
Nur habe ich das nicht als Rat an die »jüdischen Mitbürger« verstanden, wie es manche interpretieren. Wir brauchen solche Hinweise nicht. Jeder von uns weiß doch selbst, ob, wann und wo er eine Kippa aufsetzt – oder nicht. Die Aufregung in Israel und aller Welt rührt wohl eher daher, dass diese Aussage eines Spitzenbeamten des Innenministeriums der Bundesrepublik Deutschland besondere Bedeutung hat.
statistik Klein erläuterte später, dass er dies vor dem Hintergrund der Statistik getan habe, die für das vergangene Jahr einen starken Anstieg antisemitischer Delikte um fast 20 Prozent belegt. Die Lage ist ernst. Und dass der Antisemitismusbeauftragte darauf aufmerksam macht, ist richtig.
Dass deshalb für den vergangenen Samstag zum »solidarischen Kippa-Tragen« aufgerufen wurde und vom Ministerpräsidenten bis zum einfachen Bürger viele eine Jarmulke aufsetzten, finde ich sehr sympathisch. Auch, dass die gesamte Redaktion der »Bild«-Zeitung Käppchen trägt und mit einer Papier-Kippa zum Selberbasteln dafür sorgen will, dass »nun jeder in Deutschland Flagge gegen Antisemitismus zeigen« kann, halte ich für eine sehr kreative Form der Solidarität, die ich begrüße.
Der Judenhass verkleidet sich heute als »Israelkritik«.
Aber als Bankrotterklärung des Staates oder Kapitulation vor dem Antisemitismus habe ich Kleins Äußerung dennoch nicht verstanden. Diese Assoziation hatte ich eher, als ich am vergangenen Samstag nach Schabbatende die Bilder aus Berlin im Fernsehen sah: Wieder hat der Senat dort Leuten den Kurfürstendamm frei gemacht, die mitten in der Stadt gegen den jüdischen Staat hetzen und für das iranische Regime demonstrieren, welches Israel auslöschen will. Das ist eine wirkliche Bankrotterklärung!
slogan Oder wenn Staatsanwaltschaften sich noch nicht einmal in der Lage sehen, gegen eine rechtsextreme Partei, die den Slogan »Israel ist unser Unglück« plakatiert, ein Verfahren zu eröffnen, um einem Gericht die Möglichkeit zu geben, diese miese Art der Wahlwerbung zu untersagen. Das ist eine Kapitulation vor dem Antisemitismus!
Dies gilt auch, wenn ein Gericht – wie vor einiger Zeit geschehen – den Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge verhandelt und meint, die drei Angeklagten hätten auf die missliche Situation in ihrer palästinensischen Heimat aufmerksam machen wollen. Der Richter zeigte sich davon überzeugt, die Täter hätten nicht aus »antisemitischen Gründen per se« gehandelt. Dies sind deutliche Anzeichen dafür, dass der Staat im Kampf gegen Judenhass erhebliche Mängel aufweist.
Es heißt immer: »Man wird doch noch sagen dürfen ...« Natürlich darf man. Man muss uns Juden nicht mögen. Man kann auch gerne die israelische Politik kritisieren. Staat und Bürger müssen das an Meinungsäußerung ertragen, was unsere demokratisch-freiheitliche Grundordnung zulässt, mehr aber auch nicht.
Staat und Bürger müssen das an Meinungsäußerung ertragen, was unsere demokratisch-freiheitliche Grundordnung zulässt, mehr aber auch nicht.
stammtisch Die Grenzen sind klar definiert. Und diese müssen auch auf Plakaten im Wahlkampf, auf Twitter und Facebook, auf dem Kurfürstendamm oder am Stammtisch eingehalten werden. Schaffen dies Bürger und Bürgerinnen nicht, muss der Staat einschreiten.
Ich möchte auf die Rede von Rabbi Lord Jonathan Sacks verweisen, die er am 27. September 2016 im EU-Parlament hielt. Er erläuterte, dass Juden im Mittelalter wegen ihrer Religion gehasst wurden, später aufgrund ihrer Rasse und heute wegen ihrer Nation, dem Staat Israel: »Antisemitismus tritt in verschiedenen Formen auf, bedeutet aber immer dasselbe: die Ansicht, dass Juden nicht das Recht haben, als freie und gleichwertige Menschen zu existieren.«
Der Judenhass kommt heute verstärkt als Antizionismus daher oder verkleidet sich als »Israelkritik«. Wir erleben das Tag für Tag. Dagegen – wie auch gegen die verbalen und körperlichen Angriffe auf uns – müssen Gesellschaft und Staat reagieren.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main.