Der Mindestlohn wird zu einem der Hauptthemen des diesjährigen Bundestagswahlkampfes. Neu ist das Thema nicht – zumindest nicht so neu wie die Vorschläge der Piraten für ein bedingungsloses Grundeinkommen –, aber auf jeden Fall immer noch schlagzeilenträchtig. Wie zum Beispiel die Ankündigung der von der SPD geführten Mehrheit im Bundesrat, die an diesem Freitag eine einheitliche Lohnuntergrenze von 8,50 Euro gegen die Bundesregierung durchsetzen will.
Union und FDP lehnen flächendeckende gesetzliche Mindestlöhne ab. Noch. Denn inzwischen mehren sich die Stimmen politischer Beobachter, die meinen, dass sich auch die Koalitionsparteien noch vor der Bundestagswahl auf ein gemeinsames Modell einigen werden. In Umfragen sprechen sich bereits drei Viertel der Deutschen für einen bundesweiten Mindestlohn aus.
Unabhängig von wechselnden Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, von Forderungen eines gesetzlichen Mindestlohns oder branchenspezifischer Lohnuntergrenzen gibt es eine klare jüdische Perspektive in dieser Frage, die seit Jahrhunderten, eigentlich Jahrtausenden, unverändert lautet: Tora und Talmud sind – auch wenn dies nicht wörtlich, aber doch sinngemäß in den Schriften steht – für den Mindestlohn.
lebensunterhalt Erst einmal muss darauf hingewiesen werden, dass das Prinzip der Arbeit für den Lebensunterhalt eine biblische Verpflichtung ist: »Sechs Tage sollst du arbeiten ...«. In den Tehillim (Psalmen) wird zudem die Tugend eines Menschen gepriesen, der »seiner Hände Arbeit« genießt. Darüber hinaus sagen unsere Weisen: Wer arbeitet, muss in der Lage sein, seine Familie zu versorgen. Es gibt keine Hinweise darauf, wie viel gezahlt werden muss. Doch es muss in jedem Fall ausreichend sein.
Maimonides hat überliefert, dass sich die Jerusalemer Richter »90 maneh« Jahresgehalt aus dem Spendentopf nahmen. Als es ihnen nicht ausreichte, bewilligte man mehr. Und auch, wenn noch andere städtische Bedienstete sich derart bescheiden gaben, wurden sie den Bedürfnissen »ihrer Frauen und Familien« entsprechend entlohnt.
Die Tora lehrt, dass ein Beschäftigter mit Respekt behandelt werden muss und für sein Auskommen zu sorgen ist. Mehr noch: Der Ewed Iwri, also damals der Sklave oder Knecht, soll die gleichen Speisen und Getränke und das gleiche Nachtlager erhalten wie sein Herr. Es soll dem Knecht so gut gehen wie dem Herren, »tow kemocha«. In der Tora ist sogar die Rede davon, dass es ihm richtig gut geht (»ki tow lo imach«). Schwer vorstellbar, wie dieser Vorsatz auf heutige Umstände übertragen werden kann. Aber auf jeden Fall ist dies ein eindeutiges Plädoyer für gerechten Lohn.
arbeitsverhältnisse Nicht gerecht ist hingegen die Entwicklung, die wir derzeit miterleben. Als Stichwort seien die prekären Arbeitsverhältnisse erwähnt. Die Zahl der sogenannten Erwerbsarmen (Working Poor), die trotz ihrer Tätigkeit so wenig verdienen, dass sie nicht mehr den Existenz sichernden Lebensunterhalt aufbringen können, wächst beständig.
Der ehemalige Oberrabbiner Israels, Ben-Zion Meir Hai Uziel, hat darauf hingewiesen, dass der zu entrichtende Lohn sich stets nach dem örtlich durchschnittlichen Entgelt richten müsse. Im Einzelfall, und auch das sieht das jüdische Recht vor, kann ein Arbeiter allerdings auch für einen sehr viel geringeren Lohn beschäftigt werden, wenn er damit einverstanden ist. Die jüdische Tradition ist gegen zu restriktive Eingriffe in wirtschaftliche Abläufe, aber eindeutig für Gerechtigkeit. Was uns die Tora abverlangt und wir von der großen Politik fordern, müssen wir aber auch selbst praktizieren. Treu dem talmudischen Motto: Wenn nicht ich, wer dann?
Denken wir also an das Reinigungspersonal, das unsere Synagogen sauber hält, die Fahrer, die für die Gemeindeverwaltung unterwegs sind, das Küchenpersonal, das den Kiddusch zubereitet, die Pflegekräfte, die sich um unsere Senioren kümmern, oder an die Kindergärtnerinnen, die unsere Kleinsten betreuen: Sie alle verdienen gerechten Lohn für gute Arbeit – und müssen ihn auch erhalten.
schnäppchen Nicht zuletzt sollten wir dieses Prinzip auch in anderen Bereichen unseres Lebens realisieren. Zum Beispiel beim Einkauf. Denn was in Thüringen oder Baden-Württemberg gelten soll, muss ebenso in Pakistan oder Bangladesch Gültigkeit haben. Auch dort sollten Arbeiterinnen in Textilfabriken am Monatsende so viel in der Lohntüte haben, dass sie sich und ihre Familie versorgen können. Wenn wir das nächste Mal nach billigen Schnäppchen suchen – T-Shirts für 1,99 oder Jeans für 11,99 Euro –, sollten wir uns daran erinnern.
Umdenken ist notwendig. Fangen wir bei uns an. Dann können wir auch Forderungen an Politik und Regierung stellen. Und, um nochmals den Talmud zu zitieren: Wenn nicht jetzt, wann dann?