In den blutigen Unruhen der letzten Wochen nimmt die palästinensische Bevölkerung der besetzten Gebiete und vor allem Ost-Jerusalems starken Bezug auf eine angebliche Bedrohung des Status quo auf dem Tempelberg. Insbesondere in den sozialen Medien wird dabei häufig der Slogan verwendet »Al-Aksa wird nicht zerteilt werden« – als Ausdruck der Sorge, Israel könne, ähnlich wie bereits in der Höhle der Patriarchen in Hebron, eine räumliche Aufteilung des Geländes in jüdische und muslimische Bezirke vornehmen. Aber wie sieht genau der Status quo aus – und wer genau kämpft für seine Abschaffung?
Als die israelische Armee im Sechstagekrieg 1967 vor den Toren Jerusalems stand, lehnte Verteidigungsminister Moshe Dayan die Einnahme der von Jordanien annektierten Altstadt ursprünglich mit den Worten ab, Israel sei an »diesem Vatikan« schlicht nicht interessiert. Selbst nach der Eroberung der Altstadt bewies Dayan einen überraschend klaren Blick für Israels strategische Interessen: Inmitten des messianischen Taumels von Fallschirmspringer-Kommandeur Motta Gur (»Der Tempelberg ist in unseren Händen!«) und des obersten Militärrabbiners Shlomo Goren, der sogar die Sprengung der islamischen Heiligtümer ins Gespräch brachte, sorgte Dayan mit eiserner Faust dafür, dass nicht nur die israelische Fahne schleunigst vom Felsendom geholt wurde, sondern setzte ebenso geschwind die Räumung einer improvisierten Synagoge auf dem Gelände des Tempelbergs durch.
Dayan legte damit die Grundlagen für den Status quo, der bis heute die Grundfragen des Zugangs zu jenem Gelände regelt, dessen doppelte Bezeichnung als Tempelberg/Haram al-Sharif auf seine enorme Umstrittenheit verweist: Juden bezeichnen den Standort des Ersten und Zweiten Tempels als Tempelberg (Har HaBayit) und bringen insbesondere den Gründungsstein (Even HaShtiya) inmitten des heutigen Felsendoms mit der Schöpfung der Welt, der Bindung Isaaks (Akedat Yitzchak) sowie Jakobs Traumvision von der Himmelsleiter in Verbindung.
Konfliktpotenzial Muslime dagegen bezeichnen das Gelände als edles Heiligtum (Haram al-Sharif), welches nicht nur als erste Gebetsrichtung verehrt wird, sondern gemäß der Überlieferung – wenn auch nicht des Koran – als Ziel der wundersamen Nachtreise des Propheten von Mekka nach Jerusalem gilt, wo die entfernteste Moschee den Ausgangspunkt seiner anschließenden Himmelfahrt bildete. Angesichts von so viel Heiligkeit – und so viel Konfliktpotenzial – besagte Moshe Dayans Status quo von 1967 nun Folgendes: Israel verzichtet auf die Durchsetzung seiner Souveränität über das Gelände, welches mit der formalen Aufsicht einer islamischen Stiftung, des Waqf, de facto unter jordanischer Kontrolle verblieb. Der Waqf verwaltet das Gelände, bezahlt die Instandhaltung der islamischen Stätten und verzichtet auf die Zurschaustellung von Nationalfahnen.
Israel verzichtet dagegen auf den Anspruch, jüdisches Gebet auf dem Tempelberg zu ermöglichen, zeigt aber um das Gelände klare Präsenz seiner Sicherheitsorgane – und kontrolliert durch das Maghariba-Tor den nichtmuslimischen Zugang zum Gelände.
Ein kurzer Blick unter die Erde des Tempelbergs zeigt aber, wie sehr beide Seiten mit allen Mitteln darum ringen, ihre Herrschaftsansprüche über das Gelände architektonisch zu untermauern – im Falle Israels durch archäologische Grabungen im Süden des Geländes und entlang des Klagemauer-Tunnels. Im Falle des Waqf durch die Errichtung unterirdischer Sakralbauten wie das Untergeschoss der Al-Aksa-Moschee und die gewaltige Marwani-Moschee in den sogenannten Salomonischen Ställen.
Spätestens seit den geplanten Anschlägen auf die islamischen Heiligtümer in den 80er-Jahren durch den »Jüdischen Untergrund«, einer Terrororganisation aus dem radikalen Siedlermilieu, nehmen die Spannungen aber auch überirdisch zu: Der nördliche Flügel der Islamischen Bewegung agitiert seit den 90er-Jahren unter dem Motto »Al-Aksa ist in Gefahr«.
Öffnung Seit den Unruhen im Anschluss an die Öffnung des Klagemauer-Tunnels (1996) ist die Zusammenarbeit zwischen dem Waqf und der israelischen Archäologiebehörde empfindlich gestört. Spätestens seit der unilateralen israelischen Wiedereröffnung des Geländes für nichtmuslimische Besucher im Jahr 2003 beklagt der Waqf zudem die israelische Alleinherrschaft über den Zugang: Zwar wird das Verbot von erkennbarem jüdischen Gebet weiterhin streng durchgesetzt – inklusive von de-facto-Zugangsbeschränkungen für nationalreligiöse Juden –, gleichzeitig drosselt Israel aber in regelmäßigen Abständen den muslimischen Zugang zum Gelände – und scheint in der Tat regelmäßige Anfragen an den jordanischen Waqf zu richten, jüdisches Gebet an bestimmten Orten auf dem Tempelberg zu erlauben.
Im Kern des Konflikts geht es aber weder um den Verteilungsschlüssel von Besuchszeiten noch um eine räumliche Aufgliederung, und es ist fraglich, wie blutige Messerattacken auf Zivilisten in irgendeiner Form mit dem Alleinanspruch auf sakrale Räume zusammenhängen sollen. Seit der Begründung der palästinensisch-arabischen Nationalbewegung ist der Tempelberg/Haram al-Sharif aber ein attraktives Symbol zur pan-islamischen Mobilisierung gegen die jüdisch-zionistische Wiederbesiedlung des Landes, nicht zuletzt seit den blutigen Unruhen über die Kontrolle der Klagemauer 1929.
Insbesondere seit viele arabische Staaten heimliche Beziehungen zum jüdischen Nationalstaat pflegen und sich größere Sorgen um iranische Hegemonialbestrebungen machen als um das israelische Siedlungsprojekt, ist der Schutz der islamischen Heiligtümer eine der letzten Trumpfkarten der zerstrittenen palästinensischen Nationalbewegung. Zwischen dem syrischen Bürgerkrieg und den Untaten des »Islamischen Staats« scheinen angebliche Pläne für eine Judaisierung des Tempelbergs das letzte Mittel, um auf die »Judaisierung« Ost-Jerusalems und der besetzten Gebiete aufmerksam zu machen.
Auf jüdisch-israelischer Seite zeigt die, in der Tat zunehmende, Obsession mit dem – halachisch höchst umstrittenen – Zugang zum Tempelberg oder gar der Errichtung des Dritten Tempels dagegen, wie sehr die israelische Rechte sich vom liberalen Nationalismus eines Zeev Jabotinsky entfernt hat, um sich den theokratisch-nationalrevolutionären Vorstellungen eines Shabtai Ben Dov anzunähern.
Für viele nationalreligiöse Aktivisten ersetzt die Mobilisierung für den Zugang zum Tempelberg dabei zunehmend den Aktivismus für die jüdische Wiederbesiedlung der besetzten Gebiete: Nachdem die Räumung der Siedlungen zunehmend unwahrscheinlich scheint, verbleibt nur noch der Tempelberg als letztes Symbol unvollendeter jüdischer Souveränität im Land Israel. Souveränität darf in diesem Fall übrigens gerne als theokratisch-antidemokratische Kategorie verstanden werden: Ein Moshe Dayan hätte sich jedenfalls kaum erklären können, mit welchem Eifer die Aktivisten des »Tempel-Instituts« die Kultgeräte für die sofortige Wiederaufnahme des Opferkults im zukünftigen Dritten Tempel vorbereiten.
Thinktank Die International Crisis Group, ein Thinktank zur Konfliktlösung, hat dabei einen erstaunlichen Vorschlag gemacht, wie trotz der religiösen Zuspitzung beider Gesellschaften gerade der Tempelberg als Potenzial für eine Wiederannäherung genutzt werden könnte: Die Experten empfehlen – wohlgemerkt im Falle der Zustimmung aller Seiten! – die Öffnung des Tempelbergs für jüdisches Gebet, im Austausch für eine stärkere Einbeziehung der palästinensischen Seite in die Verwaltung des Geländes.
Angesichts der messianischen Endzeithoffnungen der Tempelbergbewegung, der zunehmend bizarren arabischen Geschichtsfälschung und Tempelleugnung klingt der Ruf nach Verhandlungen und Kompromisslösungen auf den ersten Blick naiv. Aber die International Crisis Group hat recht: Angesichts einer deutlich religiöseren israelischen Gesellschaft und vor allem angesichts einer viel stärkeren palästinensischen Nationalbewegung hat das Gentlemen’s Agreement zwischen israelischen Säkularisten wie Moshe Dayan und jordanischen Religionsbehörden, dem Waqf, keinerlei Gestaltungskraft mehr: Der alte Status quo war nur so lange stabil, wie die Israelis säkular und die Palästinenser schwach waren.
Der Autor ist Juniorprofessor am Ben-Gurion-Lehrstuhl für Israel- und Nahoststudien der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg.