Ȇber Babij Jar, da redet der Wildwuchs,
das Gras.
[…]
Das Schweigen rings schreit.
Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle, ich werde grau.
Und bin – bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme
[…]
Nichts, keine Faser in mir, vergisst das je!«
Welcher Schmerz. Welche Qualen. Welches Leid. Ein Leid, das uns verstummen lässt.
Viele von Ihnen kennen diese Zeilen. Jewgenij Jewtuschenko brach mit seinem Gedicht 1961 das Tabu des Schweigens, das bis dahin über der Ermordung der Juden hier in der Ukraine und in der gesamten Sowjetunion lastete. Stumm, erschüttert lässt uns auch die Musik zurück, die gerade erklungen ist. Dimitrij Schostakowitsch hat mit seiner Vertonung des Gedichts den Opfern von Babyn Jar ein musikalisches Denkmal gesetzt. Es waren Schriftsteller, Musiker, Intellektuelle, die es als erste wagten, sich mit den Verbrechen zu beschäftigen, die hier vor 80 Jahren verübt wurden. Wir verdanken ihnen viel. Sie legten Erinnerung frei – und machten sie überhaupt erst möglich.
Als Deutscher und als deutscher Bundespräsident ist es ein schwerer Weg, hierher, nach Babyn Jar. Aber zugleich bin ich dankbar, heute hier zu sein. Ich danke Ihnen, den Nachfahren der Opfer, ich danke Ihnen, verehrter Borys Sabarko, und ich danke Ihnen, den Bürgerinnen und Bürgern von Kiew.
Mein besonderer Gruß und Dank gilt auch Ihnen beiden, lieber Präsident Selensky, lieber Präsident Herzog, dass wir heute gemeinsam gedenken und erinnern.
Hier, in Babyn Jar, ermordeten deutsche Truppen in den letzten Septembertagen des Jahres 1941 fast 34.000 Jüdinnen und Juden. Es waren Deutsche, die diese Gräuel begangen haben. Worte versagen vor dem Ausmaß ihrer Grausamkeit und Brutalität.
Diese Tat – sie war keine Vergeltungsaktion. Der Massenmord an den Kiewer Juden war ein genauestens geplantes Verbrechen – geplant und begangen von SS, Sicherheitspolizei und Soldaten der Wehrmacht. Sie alle waren beteiligt.
Am Morgen des 28. September, so beschreibt es eine Augenzeugin, eine Kiewer Lehrerin, zogen Menschen in einer nicht enden wollenden Kolonne durch ihre Straße. »Frauen, Männer, junge Mädchen, Kinder, Greise, ganze Familien. […] Sie gehen schweigend. Es ist unheimlich.«
Die meisten von ihnen glaubten, umgesiedelt zu werden. In der Schlucht befahlen die deutschen Truppen den ahnungslosen Menschen, sich zu entkleiden und zwangen sie, sich auf den Boden zu legen, auf die bereits Toten, mit dem Gesicht nach unten. Dann erschossen sie sie.
Frauen, Männer. Junge Mädchen. Kinder. Greise. Ganze Familien.
33.771 Menschen in nur zwei Tagen.
Für ihre Mörder wurden warme Mahlzeiten, Getränke und Schnaps bereitgestellt.
Nur einige wenige Jüdinnen und Juden überlebten.
Das Menschheitsverbrechen des Holocaust begann nicht erst in den deutschen Todesfabriken: in Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Majdanek, Belzec. Es begann schon früher, auf dem Eroberungsfeldzug Richtung Osten, in Wäldern, am Rande von Ortschaften. Weit mehr als eine Million Juden fiel diesem Holocaust durch Kugeln in der Ukraine zum Opfer. Hier in Kiew, in Odessa, in Berdytschiw, Lypowez, Czernowitz, Mizocz – in so vielen anderen Orten.
Wer in meinem Land, in Deutschland, weiß heute vom Holocaust durch Kugeln? Wer kennt sie, diese mit Blut getränkten Namen?
All diese Orte haben keinen angemessenen Ort in unserer Erinnerung. Die Ukraine ist auf unserer Landkarte der Erinnerung nur viel zu blass, viel zu schemenhaft verzeichnet.
Deshalb ist es mir wichtig, heute hier zu sein.
Und deshalb war es mir wichtig, heute auch Korjukiwka zu besuchen, ein Städtchen im Norden, wo an zwei Tagen 6.700 Männer, Frauen und Kinder ermordet wurden.
Ich bin heute hier, um zu erinnern.
Denn wir müssen erinnern, um zu erkennen, wohin entfesselter Hass und Nationalismus, Antisemitismus und Rassenwahn führen können: Der deutsche Angriffs- und Vernichtungskrieg war eine mörderische Barbarei. Millionen fielen ihm zum Opfer. Sie wurden getötet, ermordet, in die Zwangsarbeit versklavt, verschleppt: Menschen, die den Nationalsozialisten nicht als Menschen galten. Hier in der Ukraine sollten ganze Landstriche – so heißt es in den Befehlen – systematisch »gesäubert«
und Kiew dem Erdboden gleichgemacht werden.
Auch hier in Babyn Jar ging – nach dem Massaker an den Juden von Kiew – das Morden weiter: bis ins Jahr 1943, bis zum Rückzug der Deutschen. Zehntausende Sinti und Roma, Mitglieder der ukrainischen Befreiungsarmee, Behinderte, Kriegsgefangene haben in dieser Schlucht ihr Leben gelassen.
Die Täter versuchten, alle Spuren beseitigen zu lassen, um ihre Verbrechen zu vertuschen. Aber sie ließen sich nicht beseitigen. Die Verbrechen wirken nach. Die Schatten der Verbrechen, die Narben des Krieges – sie sind bis heute sichtbar. Das Leid, das dieser Krieg brachte, wirkt bis heute fort, in so vielen Familien, in so vielen Dörfern und Städten Ihres Landes, der Ukraine.
Auch deshalb müssen wir erinnern: Ohne ehrliche Erinnerung gibt es keine gute Zukunft.
Als deutscher Bundespräsident stehe ich heute vor Ihnen und verneige mich in tiefer Trauer vor den Toten. Und ich empfinde zugleich tiefe Dankbarkeit für die Versöhnung, zu der Sie, lieber Präsident Selensky, zu der Sie, die Menschen in der Ukraine, zu der Sie, die Nachfahren der Opfer von damals, uns Deutschen die Hand gereicht haben. Versöhnung ist nichts, was man verlangen kann. Sie kann nur gewährt werden. Umso dankbarer bin ich für die enge Partnerschaft, die unsere beiden Länder heute verbindet. Umso dankbarer bin ich für das gemeinsame Fundament, zu dem wir uns bekennen: das Völkerrecht und die Menschenwürde, die Freiheit der Völker in politischer Selbstbestimmung und territorialer Integrität, ein friedliches und sicheres Europa. Auf diesem Fundament stehen wir, und wir müssen es schützen – auch das gehört zur Verantwortung vor unserer Geschichte.
Ihnen allen, Ihnen, den Nachfahren der Opfer, den Menschen in der Ukraine, Ihnen, lieber Präsident Selensky, lieber Präsident Herzog, möchte ich heute sagen: Wir Deutsche wissen um unsere Verantwortung vor der Geschichte. Es ist eine Verantwortung, die keinen Schlussstrich kennt. Es ist eine Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft.
Lieber Präsident Herzog: Wie sehr wünschte ich mir, das ohne jede Einschränkung sagen zu können. Wie sehr wünschte ich mir, sagen zu können: Wir Deutsche haben ein für alle Mal aus der Geschichte gelernt.
Aber das kann ich nicht. Es schmerzt mich und es macht mich zornig, dass Antisemitismus auch in Deutschland – gerade in Deutschland – wieder stärker wird. Es schmerzt mich und macht mich zornig, dass – gerade in der Notlage einer Pandemie – alter Hass in neue Verschwörungsmythen gegossen wird und aufpeitscht zu Hetze, Bedrohung und Gewalt.
Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand. Für uns Deutsche kann es darauf nur eine Antwort geben: Nie wieder! Der Kampf muss weitergehen – der Kampf gegen Antisemitismus und Menschenhass, und die Aufarbeitung der Verbrechen jener Zeit, zu der – das erleben wir in diesen Tagen – auch die juristische Aufarbeitung gehört.
Vor zehn Jahren traf Jewgenij Jewtuschenko, der Dichter des Babyn Jar-Gedichts, in Italien auf Wolf Biermann, den deutschen Dichter und Sänger, dessen Vater in Auschwitz ermordet worden war, und den das SED-Regime 1976 aus der DDR ausgebürgert hatte. Nach ihrer Begegnung hat Wolf Biermann Jewtuschenkos Gedicht neu gefasst, auf Deutsch – und er hat mir seine Zeilen mitgegeben auf meine heutige Reise.
Mit diesen Zeilen möchte ich enden, mit den Worten zweier Dichter, mit diesen, in gewisser Weise, gemeinsamen Worten über Babyn Jar – über die Schrecken, für die es eigentlich keine Worte gibt, im Gedenken an die Opfer, die wir nie vergessen dürfen:
»Kein Schuß, kein Wimmern. Nur es rascheln noch
im Wind die Steppengräser unten in der Schlucht
Paar alte Bäume stehn wie strenge Richter rum
Und ich steh hilflos da und schreie,
offnen Mundes,
steinestumm
Ich steh alleine hier am Abgrund wie vorm eignen Grab
bin selbst ein Greis, bin Mutter, das erschossne Kind
Sie alle sind versammelt hier für immerdar!
ergraut bin ich vor lauter Grauen,
denk ich an Einundvierzig,
an das schlimmste Schreckensjahr«