Christina Feist hat am 9. Oktober 2019 den Anschlag in der Synagoge von Halle miterlebt. Im Prozess vor dem Oberlandesgericht Naumburg – das Gericht tagt in Magdeburg – tritt sie als Nebenklägerin auf. Am Mittwoch vergangener Woche hat sie ausgesagt. Am Telefon wirkt die 30-Jährige erleichtert, dass diese Hürde nun genommen ist.
Frau Feist, warum war es Ihnen wichtig, diese Aussage zu machen?
Erstens aus persönlichen Gründen: Es war eine sehr emotionale Aussage. Es war wichtig, das Erlebte noch einmal konkret zu schildern und meine Gefühle mit dem, was da passiert ist, zu verbinden. Das ist auch wichtig für die Traumabewältigung. Zweitens geht das ja über mich und die Menschen, die an dem Tag in der Synagoge waren, hinaus. Wir müssen über den Antisemitismus sprechen, der in diesem Land historisch gewachsen ist. Und der ja immer noch strukturell da ist, wie auch meine Erlebnisse mit der Polizei und leider auch in dieser Gerichtsverhandlung zeigen.
Was genau kritisieren Sie an der Arbeit des Gerichts?
Während der ersten zwei Tage hat die Vorsitzende Richterin immer wieder versucht, den Angeklagten klein zu halten, auch etwas lächerlich zu machen. Ich sehe, warum sie das tut, aber das führt auch dazu, dass seine Motive und die dahinterstehende Ideologie des Antisemitismus klein und lächerlich gemacht wurden – und damit eben nicht ernst genommen werden. Außerdem hat sie oft die Aussagen des Angeklagten zwar paraphrasiert, aber letztlich die Narrative eben doch übernommen – obwohl sie das eigentlich nicht tun wollte. Ich bin aber sicher, das geschah nicht aus böser Absicht, sondern aufgrund mangelnder Schulung. Da gibt es viel Nachholbedarf.
Sie – und viele andere Zeugen – haben während Ihrer Aussage die Arbeit der Polizei scharf kritisiert. Warum war Ihnen das wichtig?
Weil das unfassbar ist, wie wenig die Polizei über den Umgang mit Juden, aber auch mit frisch Traumatisierten wusste, wie unsensibel mit uns umgegangen wurde. Ich hatte zwischenzeitlich das Gefühl, der Beamte, der mich vernommen hat, hört mir gar nicht wirklich zu, und ich bin ihm eigentlich lästig. Außerdem kann doch nicht wahr sein, dass die Polizei im Jahr 2019 – und ich bezweifle, dass sich da inzwischen etwas geändert hat – nicht weiß, was Jom Kippur ist und den Unterschied zwischen Israelis und in Deutschland lebenden Juden nicht kennt. Es gibt ja nun wirklich genügend Juden im Land, damit wir als Minderheit gelten können. Da sind Schulungen und ein entsprechendes Sensibilitätstraining längst überfällig.
Wie wichtig war es für Sie, dass der Angeklagte Ihnen nun zuhören musste?
Ich habe den Angeklagten bei meiner Aussage vollkommen ausgeblendet. Ich weiß auch nicht, ob er mir überhaupt wirklich zugehört hat. Aber es ist ja bekannt, dass er bei den Aussagen der anderen Zeugen immer wieder verächtlich gelacht hat, dass er keine Reue zeigt. Aber es geht nicht um den Täter. Er ist egal. Es geht mir darum, vor einem Gericht meine Sicht der Dinge zu schildern, es geht um die anderen Menschen im Saal, um die anderen Nebenkläger, die Besucher, um die Medienvertreter, es geht darum, die Gesellschaft zu erreichen.
Sie haben bei unserer letzten Begegnung gesagt, dass Sie sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlen, dass Sie sich nicht mehr vorstellen können, hier zu leben. Wie kann dieser Prozess Ihnen wieder mehr Sicherheit geben?
Ich glaube, das geht nicht so schnell. Da müsste ich das Gefühl haben, dass sich konkret etwas tut, dass etwas gegen den historisch gewachsenen Antisemitismus in diesem Land getan wird. Das muss bei der Bundesregierung anfangen und sich durch alle Ebenen ziehen.
Welche Fragen sind noch offen?
Wir haben während der Verhandlung eine Aufnahme einer Überwachungskamera gesehen, die zeigt, wie zwei Polizisten vor der Synagoge ankommen, und es ist zu sehen, wie dort eine leblose Person auf dem Bürgersteig liegt – später haben wir gelernt, dass das Jana war und dass sie schon tot war –, und die Polizisten haben sich überhaupt nicht um sie gekümmert. Da hätte ich gerne gewusst, was in deren Kopf vorgegangen ist. Und ich möchte, dass sie sich rechtfertigen müssen. Und ich möchte wissen, wie es sein kann, dass die Polizei so wenig über das Judentum und die Arbeit mit Traumatisierten weiß, und was unternommen wird, damit sich das ändert.
Am Tag Ihrer Aussage vor Gericht hat in Paris, wo Sie inzwischen leben, ein weiterer wichtiger Prozess begonnen: gegen die Hintermänner derer, die im Januar 2015 mutmaßlich den Anschlag auf das Satiremagazin »Charlie Hebdo« und einen koscheren Supermarkt verübt haben. Verfolgen Sie das und sehen Sie Parallelen?
Selbstverständlich verfolge ich das – zumal ich während des Anschlags in Paris war, allerdings in Sicherheit in meinem Studentenwohnheim. Ja, das ist ein sehr wichtiger Prozess. Aber ich denke nicht, dass es allzu große Parallelen gibt. Klar: Das Motiv war in beiden Fällen Antisemitismus. Aber der Antisemitismus in Frankreich und der in Deutschland haben einen derart anderen historischen Hintergrund, sind anders gewachsen und strukturiert, dass ein solcher Vergleich nicht zielführend ist und eher in die Irre führt. Da vergleicht man Äpfel mit Birnen.
Wie können Sie nun – wenn überhaupt – das Ganze für sich zum Abschluss bringen?
Einen Abschluss kann es erst nach einem Urteil geben, wenn das überhaupt geht. In der Zwischenzeit habe ich mir vorgenommen – so es Zeit, Geld und die Pandemie zulassen –, wiederzukommen, um den Prozess zu verfolgen, aber vor allem, um die anderen Nebenkläger zu unterstützen, so wie ich von ihnen unterstützt wurde. Ich finde es wichtig, allen Nebenklägern genau zuzuhören. Alle haben den Tag anders erlebt, aus einem anderen Blickwinkel gesehen. Um ihre Erlebnisse muss es jetzt gehen. Außerdem werde ich in diesem Jahr wieder in Halle Jom Kippur feiern. Das lasse ich mir nicht nehmen.
Mit der Nebenklägerin im Prozess sprach Thyra Veyder-Malberg.