NS-Verbrechen

»Das ist nur der Anfang«

Anklage wegen Beihilfe zum Mord in 50 Fällen: Kurt Schrimm leitet die Vorermittlungen. Foto: ddp

Gegen 50 frühere Aufseher des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau laufen derzeit Vorermittlungen wegen Beihilfe zum Mord. »Das ist nur der Anfang«, sagt Kurt Schrimm, Leitender Oberstaatsanwalt der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, zur Jüdischen Allgemeinen.

Möglich geworden sind die Ermittlungen, die letztlich in Anklageerhebungen und Urteilen münden sollen, durch das sogenannte Demjanjuk-Urteil des Landgerichts München 2011. Dort war erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte klargestellt worden, dass zur Anklage wegen Beihilfe zum Mord jede Aufsehertätigkeit in Vernichtungslagern ausreicht.

Bislang musste jeder einzelne Mordfall und die jeweilige konkrete Tatbeteiligung minutiös ermittelt werden. Der frühere ukrainische und amerikanische Staatsbürger John Demjanjuk war 2011 wegen Beihilfe zum Mord in 20.000 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden.

Die aktuellen Vorermittlungen gegen die 50 noch in Deutschland lebenden und mit Namen und Adresse bekannten Männer, die alle um die 90 Jahre alt sind, sollen den Auftakt für umfangreiche weitere Verfahren darstellen. In Auschwitz, so Schrimm, war die Ermittlung verhältnismäßig einfach. »Es gibt nämlich Listen aller ehemaligen Aufseher von Birkenau.« Doch auch die Aufseherkarteien der anderen Vernichtungslager werden ausgewertet.

neue wege Hinzu kommen umfangreiche Recherchen in Lateinamerika und Osteuropa. Die Ausweitung der Ermittlung, die einen enormen Schub für die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen bedeutet, ist nicht nur durch das Demjanjuk-Urteil bedingt. »Jahrelang wurde in Ludwigsburg gearbeitet wie in jeder anderen Staatsanwaltschaft: Wenn es einen Anfangsverdacht gab, wurde ermittelt«, erklärt Schrimm. »Irgendwann gab es aber kaum noch einen Anfangsverdacht. Da haben wir uns überlegt, dass wir entweder unsere Arbeit einstellen oder nach neuen Wegen suchen müssen.«

Zu diesen neuen Wegen gehört, dass Fragen gestellt wurden, die vorher kaum gestellt wurden. »Die meisten der prominenten NS-Täter, wie etwa Adolf Eichmann, sind mit einheitlichen Dokumenten eingereist, mit Pässen des Internationalen Roten Kreuzes«, begründet Schrimm das Vorgehen. »Wir haben uns überlegt: Wer ist noch mit diesen Dokumenten nach Lateinamerika gelangt?« Jetzt werden die Daten, die auf Karteikarten lagern, systematisch ausgewertet.

Vor Brasilien hatten die Ludwigsburger auch Kontakt zu Argentinien und Uruguay aufgenommen. In Argentinien kapitulierten sie vor 800.000 Akten, von denen jede einzelne durchzusehen gewesen wäre. In Uruguay fanden sich die Akten nicht mehr; also wandten sich die Staatsanwälte an Brasilien, wo es zwar auch 800.000 Fälle sind, die aber wegen des dortigen Ablagesystems auf Karteikarten relativ leicht ausgewertet werden können. Derzeit sind Mitarbeiter der Zentralstelle in Rio.

prozessakten Osteuropa wird ein zweiter Schwerpunkt der Ermittlungen. »Das liegt noch vor uns«, sagt Schrimm. Das Vorgehen unterscheidet sich von dem in Lateinamerika, denn es werden Prozessakten aus den Jahren 1945 und 1946 ausgewertet. Damals waren, überwiegend von sowjetischer Seite, viele deutsche Kriegsgefangene und sowjetische oder osteuropäische Kollaborateure vor Gericht gestellt worden. »Da schauen wir nach Aussagen, ob bestimmte Namen in Zusammenhang mit konkreten Verbrechen gebracht werden«, erläutert Schrimm. Dieses Verfahren erscheint den Ludwigsburgern Erfolg versprechend.

Anklage erheben kann die Zentralstelle letztlich nicht, sie leistet Vorermittlungen und gibt diese dann an die für den Wohnsitz des Verdächtigen zuständigen Staatsanwaltschaften weiter. »Wenn es möglich ist, ermitteln wir so lange wie möglich und geben erst recht spät ab«, sagt Schrimm. »Aber wir bieten den Staatsanwaltschaften auch an, unterstützend zur Seite zu stehen.«

überlebende Das Internationale Auschwitz-Komitee zeigte sich erfreut über die Meldungen aus Ludwigsburg, die am Samstag von Zeitungen der WAZ-Gruppe veröffentlicht worden waren. »Für die Überlebenden von Auschwitz, die die Bilder des Lagers und ihrer ermordeten Familien ihr ganzes Leben tragen, ist dies eine wichtige Nachricht«, heißt es in einer Erklärung von Christoph Heubner, dem geschäftsführenden Vizepräsidenten des Komitees.

Auch das Simon Wiesenthal Center, das sich seit vielen Jahrzehnten der Verfolgung von NS-Verbrechern widmet, begrüßt die Arbeit von Schrimm und seinen Kollegen. »Wir sind hocherfreut, das diese Fahndungen jetzt begonnen haben«, sagte der Jerusalemer Direktor Efraim Zuroff, zeigt sich aber aufgrund des hohen Alters der Tatverdächtigen nur bedingt optimistisch. »Wenn fünf bis zehn angeklagt werden, werde ich mich mitten in Berlin hinstellen und laut Halleluja schreien.«

Vereinte Arabische Emirate

Chabad-Rabbiner in Dubai vermisst

Berichten zufolge könnte der Rabbiner durch den Iran entführt oder ermordet worden sein

 24.11.2024

Kriminalität

»Schwachkopf«-Post zu Habeck: Jetzt melden sich die Ermittler zu Wort

Ein Mann soll Wirtschaftsminister Habeck im Netz beleidigt haben. Dass dann die Polizei zu Besuch kam, sorgte nicht nur im Umfeld des Vizekanzlers für Verwunderung. Die Ermittler liefern Erklärungen

von Frederick Mersi  22.11.2024

Antisemitismus

Polizei sucht nach Tatverdächtigem vom Holocaust-Mahnmal

Der Mann soll einen volksverhetzenden Text in das dortige Gästebuch geschrieben haben

 22.11.2024

Debatte

Theologen werfen Papst einseitige Sicht auf Nahost-Konflikt vor

Ein Schreiben von Papst Franziskus zum Nahost-Krieg enthalte einen »blinden Fleck im Denken«

 22.11.2024

Debatte

CDU-Ministerpräsident verurteilt Haftbefehl gegen Netanjahu

»Völlig ausgeschlossen, dass ein demokratisch gewählter Ministerpräsident aus Israel auf deutschem Boden verhaftet wird, weil er sein Land gegen Terroristen verteidigt«

 22.11.2024

CDU/CSU

Unionspolitiker: Verhaftung von Netanjahu auf deutschem Boden »unvorstellbar«

Die größte Oppositionsfraktion kritisiert die fehlende Haltung der Bundesregierung

 22.11.2024

Den Haag

Der Bankrott des Internationalen Strafgerichtshofs

Dem ICC und Chefankläger Karim Khan sind im politischen und juristischen Kampf gegen Israel jedes Mittel recht - selbst wenn es unrecht ist. Ein Kommentar

von Daniel Neumann  22.11.2024

Internationaler Strafgerichtshof

»Halten uns an Recht und Gesetz«: Jetzt äußert sich die Bundesregierung

Außenministerin Annalena Baerbock will aber noch genauer prüfen, was der Entscheid des IStGH bedeutet

 22.11.2024

Budapest

Orbán: »Werde Netanjahu nach Ungarn einladen«

Regierungschef Viktor Orbán will seinen israelischen Amtskollegen trotz des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofes weiter empfangen

 22.11.2024