Herr Schuster, knapp vier Jahre als Zentralratspräsident liegen hinter Ihnen. In dieser Zeit gab es große gesellschaftliche und politische Umwälzungen. Haben Sie sich vorstellen können, dass sich die Republik in dieser Zeit so verändern könnte?
Nein, definitiv habe ich mir die gesamtpolitische Entwicklung der Bundesrepublik im November 2014 in keiner Weise vorstellen können. Es begann im Spätsommer 2015 mit dem Zustrom Hunderttausender Flüchtlinge. Dabei hat mich die Willkommenskultur sehr positiv beeindruckt. Sie hat mich eigentlich in dem Glauben an die gewachsene demokratische Struktur dieses Landes bestärkt. Problematisch wurde es ab dem Zeitpunkt, als es offensichtlich einer kleinen Anzahl von Menschen gelang, Angst zu schüren und eine Stimmung aufzubauen, die der Willkommenskultur eine Abschottungskultur entgegenstellte, und sich mit diesem Thema politisch so aufzustellen, dass daraus eine Partei wachsen konnte, die zunehmend fremdenfeindlich wurde. Von dieser Partei waren immer häufiger Thesen zu hören, von denen ich mir nicht hätte träumen lassen, dass wir im 21. Jahrhundert in Deutschland mit ihnen konfrontiert würden.
Ist die Republik nach rechts gerückt?
Ich sehe durchaus einen Rechtsruck. Dem Verfassungsschutz zufolge wächst die rechtsextremistische Szene seit Jahren. Und auch in bürgerlichen Kreisen werden antisemitische oder rassistische Gedanken geäußert, was man sich bis vor einigen Jahren nicht getraut hätte. Rote Linien wurden in diesen vier Jahren deutlich verschoben. Die politische Debatte ist aggressiver geworden.
Sie haben gesagt, Sie seien etwas überrascht, dass die etablierten Parteien eine gewisse Hilflosigkeit angesichts der Entwicklung in Richtung Rechtspopulismus und Rechtsextremismus zeigen. Was erwarten Sie von der Politik?
Von den Parteien des demokratischen Spektrums erwarte ich, dass sie klare Kante zeigen gegen entsprechende politische Aktivitäten der AfD. Was wir zum Teil erleben, ist doch so eine Unsicherheit – distanziere ich mich oder versuche ich, mit eigenen Äußerungen diese Thesen fast noch zu überholen oder diesen Behauptungen zumindest nachzulaufen? Man muss sich vor Augen führen, was hinter den Äußerungen der AfD steht. Was mich am meisten ärgert – und ich bin selbst am Anfang immer wieder in diese Falle getappt: Die AfD hält ein Stöckchen hin, und alle springen darüber. Manche Tabubrüche müssen thematisiert werden, aber die anderen Parteien sollten die AfD auch häufiger mit Missachtung strafen.
Aber es gibt wohl ein paar mehr Gemeindemitglieder, die die AfD wählen.
Die AfD hat gerade vor der Bundestagswahl zum Teil mit Erfolg versucht, primär bei Spätaussiedlern zu werben, und auch russischsprachige Mitglieder der jüdischen Gemeinden angesprochen, allerdings nur mit geringem Erfolg. Der Zentralrat hat den Gemeinden deutlich gemacht, welche Problematik wir in der AfD sehen. Dass dies eine Partei ist, die die Sicherheit jüdischer Menschen oder überhaupt die physische Sicherheit von Menschen verbessert, daran habe ich erhebliche Zweifel.
Sie haben in den vergangenen vier Jahren einige Gemeinden kennengelernt – haben Sie hier eine zunehmende Sorge um die Sicherheit bemerkt?
Ja, durchaus. Neben der Sorge aufgrund des Judenhasses bei einem Teil der Migranten beunruhigen in jüngster Zeit die deutlich lauteren rechtsextremen Töne wie beispielsweise in Chemnitz oder Dortmund. Doch wenn man – zu Recht – wegen mancher gesellschaftlicher Entwicklungen besorgt ist, dann ist die AfD dennoch nicht die richtige Adresse. Denn sie bietet in Wahrheit keine Lösungen an, duldet in ihrer Partei Rechtsextreme und fördert sie – zumindest verbal. Dass es auch ein Bedrohungspotenzial durch Migranten gibt, die mit antisemitischen Vorurteilen aufgewachsen sind, steht außer Zweifel. Meinem Empfinden nach haben jedoch die Sicherheitsbehörden, und da meine ich die Polizei, den von Migranten ausgehenden Antisemitismus deutlich mehr im Blick als den Rechtsextremismus, auch wenn das die Kriminalstatistik bisher nicht widerspiegelt.
In der Migrationsdebatte haben Sie schon früh darauf hingewiesen, dass die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft begrenzt ist. Damals regte sich Protest, heute scheint das Mehrheitsmeinung zu sein.
Dies ist heute beinahe Konsens, gerade auch bei Menschen, die die Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen haben. Sie merken, dass Integration kein Kinderspiel ist. Die Erfahrung der jüdischen Gemeinschaft gerade in Deutschland zeigt: Integration braucht mindestens eine Generation.
Wie steht es mit den Kindern und Enkeln russischsprachiger Zuwanderer?
Die nehme ich inzwischen schon als dermaßen integriert wahr, dass deren Sorgen und Wünsche keine anderen sind als die der Kinder und Enkel der sogenannten Alteingesessenen. Wenn ich mich bei der Jewrovision oder beim Jugendkongress umsehe, kann ich nicht mehr unterscheiden, woher die Eltern oder Großeltern einmal kamen.
Jenseits von Integration: Worin sehen Sie die Herausforderungen in der politischen Arbeit des Zentralrats?
Aufgabe des Zentralrats muss sein, mit der Politik im Gespräch zu bleiben, um die Sorgen und Nöte der jüdischen Gemeinschaft klar zu artikulieren. Da geht es nicht um Geld. Da geht es mir vor allem um die politisch sorgenfreie Existenz jüdischen Lebens in Deutschland. Die Politik spricht häufig vom jüdischen Leben und dem damit verbundenen Vertrauen in Deutschland. Schöne Worte sind das eine. Aber jetzt kommt der Lackmustest. Jetzt ist es an der Zeit zu zeigen, dass man sich engagiert dafür einsetzt, dass jüdisches Leben ohne Einschränkungen in Deutschland existieren kann.
Umfragen aus den USA machen deutlich, dass immer mehr Juden immer weniger mit organisiertem jüdischen Leben anfangen können. Stellen Sie einen solchen Trend auch hierzulande fest?
Es gibt unterschiedliche Zahlen, wie viele Juden heute überhaupt in Deutschland leben. In den Gemeinden sind es rund 100.000 Menschen, das wissen wir. Aber dann gibt es Angaben, nach denen insgesamt 200.000 Juden in Deutschland leben sollen. Das glaube ich nicht. Da wurden Zahlen von Kontingentflüchtlingen übernommen. Doch wir wissen, dass ein Teil der Zuwanderer halachisch nicht jüdisch ist. Insofern würde ich heute von etwa 150.000 Juden im Land ausgehen. Es sind also rund 50.000, die nicht Mitglieder in Gemeinden sind, darunter ein nicht unerheblicher Teil, der die Gemeinden bewusst verlassen hat. Nicht, weil die Menschen nicht als Juden leben wollen, sondern weil es am Ende des Monats angenehmer ist, etwas mehr auf dem Konto zu haben, also keine sogenannte Bekenntnis- oder Gemeindesteuer bezahlen zu müssen. Und es gibt diejenigen, die zwar Mitglieder, aber völlig passiv sind.
Wie kann man diese Menschen besser erreichen?
Hier geht es um Investition in die Zukunft. Wir wollen und müssen Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene machen. Das ist für die Landesverbände und die einzelnen Gemeinden wichtig. Hier will der Zentralrat weiterhin Wegweiser sein. Wenn es uns nicht gelingt, mehr junge Menschen in die Gemeinden zu holen, wird sich das demografische Problem verstärken. Daher machen wir neue Angebote – wie unser Familienprogramm Mischpacha oder auch »Next Step« für junge jüdische Nachwuchsführungskräfte.
Der Zentralrat versteht sich als Dach dieser Gemeinden, auch in Zeiten der Pluralisierung des Judentums. Ist das eine neue Herausforderung?
Ich glaube, dieser Trend war vor einigen Jahren noch stärker. Eines der ganz großen Verdienste meines Amtsvorgängers Dieter Graumann war es, die verschiedenen religiösen Strukturen unter dem Dach des Zentralrats zu vereinen – eine sehr vorausschauende und weise Strategie. Ich hoffe, dass es uns gelingen wird, weitere religiöse Strukturen einzubeziehen. Aber da bin ich ganz optimistisch, im Moment sehe ich weniger Fliehkräfte als noch vor einigen Jahren.
Der Berliner »Tagesspiegel« schrieb 2014 anlässlich Ihrer Amtsübernahme, dass »manche Nichtjuden« von Ihnen »moralische Autorität« erwarten. Sind Sie dieser Erwartung gerecht geworden?
Nun, ich sehe mich nicht als moralische Instanz. Ich meine aber schon, dass ich mich, wenn es um den Schutz der jüdischen Gemeinschaft oder allgemein um Minderheitenschutz oder um besorgniserregende gesellschaftliche Entwicklungen geht, zu Wort melden muss. Aber bewusst habe ich mich nicht zu jedem aufkommenden Hoch oder Tief geäußert. Ich glaube, dass das Wort des Zentralrats nicht zuletzt auch deshalb weiterhin Gewicht hat.
Haben Sie den Eindruck, immer richtig verstanden worden zu sein?
Für mich war es besonders überraschend, dass einige Äußerungen, die meiner Meinung nach wirklich inhaltlich kontrovers oder sogar provokant waren, als kleine Meldungen abgetan wurden. Auf der anderen Seite gab es Äußerungen, die ich als völlig unspektakulär empfunden habe und die zu einem riesigen Medienhype geführt haben.
Sie meinen die »Kippa-Diskussion«?
Ja. Ich hatte im Februar 2015 von Würzburg aus ein Rundfunkinterview zum Auftakt des Jugendkongresses in Berlin gegeben. Darin habe ich gesagt, dass ich jüdischen Jugendlichen davon abraten würde, in muslimisch geprägten Stadtvierteln eine Kippa zu tragen. Das war für mich eine Binsenweisheit. Ich habe der Aussage keine weitere Bedeutung zugemessen, denn ich dachte: In Kreuzberg wird schon keiner mit Käppchen durch die Straßen laufen. Und dann gab es eine riesige Aufregung.
In diesem Jahr hat die Bundesregierung das vom Zentralrat lange geforderte Amt des Antisemitismusbeauftragten eingerichtet. Auch wurden die jährlichen Mittel für den Zentralrat um drei Millionen Euro erhöht. Was würden Sie zudem auf der Haben-Seite Ihrer Amtszeit verbuchen?
Zwei große Erfolge des Zentralrats haben Sie damit genannt. Wir haben hart dafür gearbeitet, damit diese Wünsche Realität wurden. Daneben gab es eine Reihe von politischen Initiativen, zum Beispiel haben wir uns erfolgreich dafür eingesetzt, dass die BDS-Bewegung in einigen Städten jetzt deutlich weniger Rückhalt bekommt. Auch unsere Zusammenarbeit mit der Kultusministerkonferenz war sehr fruchtbar, sodass wir jetzt gemeinsam eine kommentierte Materialsammlung für Lehrkräfte erstellt haben. Und in die Lehreraus- und -fortbildung werden unsere Vorschläge einfließen, um das Judentum besser in der Schule zu vermitteln. Glücklich bin ich auch über unser Begegnungsprojekt »Likrat«, das sehr gut angenommen wird.
Hat das Amt des Zentralratspräsidenten Sie verändert?
Ich hoffe, dass ich mich persönlich nicht verändert habe. Aber das müssen andere beurteilen. Ich glaube, ich bin so bodenständig geblieben, wie ich immer war.
Wie groß ist die Herausforderung, wenn man wie Sie auch beruflich engagiert ist?
Der zeitliche Aufwand ist sehr groß. Deshalb ist meine Frau nicht immer begeistert, wenn ich so viele Verpflichtungen habe, weil sie zeitlich gesehen die Leidtragende ist. Wenn die Partnerin nicht dahintersteht, kann es nicht gelingen. Selbstverständlich leidet das Privatleben. Ich habe auch einen relativ großen Freundeskreis in Würzburg, den ich mir glücklicherweise trotz allem erhalten habe. Hinzu kommt der Spagat, wenn man wie ich als Arzt eine Praxis führt. Das Amt des Zentralratspräsidenten ist ein echtes Ehrenamt, also keines mit Gehalt. Und irgendwoher müssen die Brötchen ja kommen. Ohne die sehr gute Unterstützung durch die Verwaltung des Zentralrats mit Geschäftsführer Daniel Botmann an der Spitze und auch durch unsere beiden Vizepräsidenten Ebi Lehrer und Mark Dainow wäre das Amt neben meinem Arztberuf nicht zu bewältigen.
Am 25. November tagt in Frankfurt die Ratsversammlung. Werden Sie erneut kandidieren?
Nach reiflicher Überlegung bin ich zu der Entscheidung gekommen, meinen Hut nochmals in den Ring zu werfen. Wir werden sehen, wie die Ratstagung und das neu gewählte Präsidium entscheiden. Dies ist ein Amt, das nicht immer vergnügungssteuerpflichtig ist. Aber es ist auch ein Amt, das eine gewisse Befriedigung gibt, denn mitunter hat man das Gefühl, dass man doch etwas bewegen kann. Und es gibt einige Vorhaben, die ich in den kommenden vier Jahren realisieren möchte, dazu gehört unter anderem die Einführung von Rabbinern bei der Bundeswehr, eine Verbesserung der Integrationskurse sowie ein bundesweites Meldesystem und eine bessere Statistik für antisemitische Vorfälle. Daneben möchten wir mit unseren Plänen für eine Jüdische Akademie deutlich vorankommen. Und ein Gemeindetag ist für 2019 auch wieder in der Planung. Außerdem braucht es eine gewisse Zeit, bis man in den politischen Betrieb hineinfindet, Ansprechpartner kennenlernt, Kontakte knüpft. Deshalb gehe ich davon aus, dass eine zweite Amtszeit mit der gleichen Person an der Spitze für den Zentralrat und die jüdische Gemeinschaft von Vorteil wäre. Insofern werde ich ein weiteres Mal kandidieren.
Mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden sprachen Heide Sobotka und Detlef David Kauschke.