Es war bestimmt 15 Grad zu kalt für die Jahreszeit. Doch an diesem Samstag Ende Juli kümmerte das die Menschen nicht. Sie feierten. Sie feierten ihren Verein, sie feierten ihr Viertel, sie schwenkten weiß-blaue Fahnen und sangen »Giiieeee – sing! Giiieeee – sing!«, den Namen des Arbeiterstadtteils, in dem das Grünwalder Stadion steht. Die Heimat, das altersschwache Herz eines Mythos: des Turn- und Sportvereins München von 1860, kurz TSV 1860 München. Der TSV ist das München auf der anderen Seite der Isar, weit weg von Marienplatz, Dallmayr und Englischem Garten. Er ist der Verein der kleinen Leute, die mit Münchner Schickeria nichts am Hut haben und den übermächtigen Lokalrivalen FC Bayern München so sehr verachten, dass sie seine Niederlagen überschwänglicher feiern als die eigenen Siege. Er ist der Verein, der den Menschen von Giesing eine Identität gibt, etwas, auf das sie stolz sein können. Seit 150 Jahren.
Jubel Mehr als 12.000 »Löwen«, so nennen sich der Verein und seine Anhänger auch, kamen an diesem Samstag ins Grünwalder Stadion zum Jubiläumsspiel gegen Borussia Dortmund. Auch Anton Löffelmeier stand auf einer der Tribünen. Ein zurückhaltender, hochgewachsener Mann. Die Geschichte des Vereins kennt vermutlich niemand besser als er. Löffelmeier ist nicht nur überzeugter »Löwe«, er ist auch Historiker. Bei all dem Jubel ums 150-Jährige empfindet er neben Freude auch Unbehagen. Seit 20 Jahren arbeitet Löffelmeier im Münchner Stadtarchiv, und er hat recherchiert, wie sich der TSV 1860 verhalten hat, als München unter der Nazi-Herrschaft noch »Hauptstadt der Bewegung« genannt wurde. Er fand heraus, dass der Verein zwischen 1933 und 1945 tief ins nationalsozialistische System verstrickt war. Kein anderer Münchner Sportklub habe sich den neuen Machthabern »derart massiv angedient« wie 1860, schreibt Löffelmeier in seinem Buch Die Löwen unterm Hakenkreuz. Fast nirgends in der Liga hätten so viele NSDAP-Leute auf den Tribünen gesessen wie im Grünwalder Stadion. Lange vor der »Machtergreifung« sympathisierten vor allem junge Vereinsmitglieder mit der aufkommenden Nazibewegung.
Uniform Bei seinen Recherchen stieß Löffelmeier auf Männer wie Fritz Ebenböck, der 1934 für einige Monate Präsident des TSV 1860 war. Ein überzeugter Nazi, seit 1922 NSDAP-Mitglied und Anführer einer Münchner SA-Einheit, die 1923 am Hitler-Putsch beteiligt war. Er stieß auf Männer wie Sebastian Gleixner, der ab 1941 die Fußballabteilung des Klubs leitete. Auf Versammlungen zeigte Gleixner sich gerne in seiner braunen SA-Uniform, den Revolver am Gürtel. Und auf Männer wie Emil Ketterer, der von 1936 bis 1945 Vereinsvorsitzender war. Ein Mediziner und leidenschaftlicher Verfechter der Euthanasie. Nach 1933 schafften sie es rasch an die Spitze des Vereins. Wie es den jüdischen Mitgliedern des TSV in der NS-Zeit ergangen ist, konnte Anton Löffelmeier nur zu einem kleinen Teil herausfinden. »Es waren wohl nur wenige«, sagt er. Zu ihnen gehörte Julius Gerstle, einer der besten leichtathletischen Sprinter im damaligen Deutschland. Er konnte 1938 rechtzeitig in die USA flüchten, 1964 kehrte er aus dem Exil zurück. Ein anderer war der Kaufmann Emil Katz. In seinem Giesinger Geschäft gewährte er allen Vereinsmitgliedern fünf Prozent Rabatt auf Sportbekleidung, das verraten alte Zeitungsannoncen. Mit Richard »Little« Dombi hatte der TSV noch 1928 einen jüdischen Trainer. Allerdings nur für ein Jahr. Ob er die »Löwen« wegen seiner jüdischen Herkunft und eventueller Schmähungen verließ, hat Löffelmeier nicht herausgefunden.
Interesse Insgesamt konnte der Historiker lediglich vier Lebensläufe jüdischer Mitglieder nachzeichnen. Bombenangriffe und Wasserschäden haben Lücken in die Mitgliederkartei des Vereinsarchivs gerissen. Weitere Dokumente verschwanden nach dem Krieg oder wurden weggeworfen. Es sei kein Wunder, dass man mit dem Material nicht sorgsam umgegangen ist, sagt Löffelmeier. »Der Verein hatte jahrzehntelang kein Interesse daran, seine Vergangenheit aufzuarbeiten.« Erst unter der aktuellen Präsidentschaft sei man dem Thema gegenüber offener geworden. Franz Maget erinnert sich noch gut an den Mann aus dem Stadtarchiv, der vor etwa drei Jahren in sein Büro kam. »Ich fand Anton Löffelmeiers Idee, unsere NS-Vergangenheit zu untersuchen, gut und überfällig«, sagt Maget heute. Er sei froh, dass endlich Licht auf diesen Teil der Vereinsgeschichte gefallen sei. Seit 2007 ist der SPD-Politiker Vizepräsident bei den »Löwen«. Zweimal ist er bei Landtagswahlen gescheitert. 2003 an Edmund Stoiber, 2008 an Günther Beckstein. Was für den TSV der FC Bayern ist, war für Maget die CSU. Trotzdem hat er nie aufgegeben.
Eine Eigenschaft, die beim TSV 1860 nützlich sein kann. Seit Jahren stolpert der Verein von einem Dilemma ins nächste. Das Geld fehlt, das geliebte Stadion verfällt, der Kader lässt fürchten, dass der Wiederaufstieg in die erste Bundesliga eine weiß-blaue Schwärmerei bleiben dürfte. Auch im Umgang mit ihrer Vergangenheit zauderten die »Löwen«. »Vielleicht hat es bei 1860 so lange gedauert, weil der Verein und die Verantwortlichen zu sehr mit den eigenen Problemen beschäftigt waren«, sagt Maget. Noch heute scheint das Verhältnis zu damals schwierig. Wer auf der Vereins-Homepage die Rubrik »Geschichte« durchstöbert, liest zwischen den Jahren 1926 und 1945 – nichts. Zwei Jahrzehnte ausgeklammert. Kein Wort zur engen Verbindung mit den Nazis.
gegen rechts Sonntag, drei Wochen nach der Jubiläumsfeier. Für die Amateure der »Löwen« beginnt die neue Saison. Vor den Kassenhäuschen des Grünwalder Stadions versammeln sich die Fans. Einer von ihnen ist Herbert Schröger. Gerade kauft sich der Mann mit dem gutmütigen Gesicht und der blauen Schirmmütze die 20. oder 21. Sechziger-Dauerkarte seines Lebens. So genau weiß er das nicht. »Einmal Löwe, immer Löwe, is’ so«, sagt Schröger. Auf dem Weg in seinen Stammblock wird Schröger von allen Seiten zugenickt. Ein »Grüß Gott, mein Lieber« hier, ein »Servus, Herbert« da. Man kennt ihn. Doch das war nicht immer so. Als Schröger und einige Freunde vor 13 Jahren anfingen, zu mahnen, dass man mit der braunen Vergangenheit aufräumen müsse und dass Rassismus und Antisemitismus immer da wären, kannte sie niemand.
Die Profis des TSV waren damals gerade ins Olympiastadion umgezogen. Auf der Tribüne machten sich befremdliche Rituale breit. Junge Männer reckten den rechten Arm zum Hitlergruß empor, wenn der Stadionsprecher die Mannschaft ankündigte. Kam ein dunkelhäutiger Spieler an den Ball, hallten Affengeräusche von den Rängen. »Uuh-uuh-uuh«, sangen sie. Oder: »Zick-Zack, Zigeu- nerpack«. Die Fanhändler verkauften plötzlich Kleidung, die vorwiegend von Neonazis getragen wird. Schröger und seine Freunde fanden das unerträglich. Sie schrieben einen Slogan auf ein Leinentuch und hängten es an den Drahtzaun im Stadion. »Löwen-Fans gegen Rechts«, stand darauf. Nach dem Spiel kamen andere Fans zu ihnen und bedankten sich, dass endlich jemand etwas gegen die Nazis tue. Seither hängen sie ihr Transparent immer auf.
Heute ist der Slogan »Löwen-Fans gegen Rechts« der Name ihrer Initiative. Zu Beginn hatten sie oft das Gefühl, als »Löwen-Fans gegen den TSV« wahrgenommen zu werden. Den Leuten war es suspekt, dass sich da welche gegen Rechts engagierten. Auch die Vereinsführung wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Wöchentlich schrieben sie Briefe an den damaligen Präsidenten Karl-Heinz Wildmoser, der jüngst gestorben ist: Man müsse Rechts- radikalen entgegentreten und sich der NS-Geschichte des Vereins stellen. Eine Antwort bekamen sie nie. Wildmoser schwieg, die Neonazis konnten weiter grölen. Heute ist das Verhältnis zum Verein besser geworden. Die Rechten sind zwar noch da, aber sie verhalten sich ruhig. Vizepräsident Franz Maget sagt von sich, dass er mit einem Schal der »Löwen-Fans gegen Rechts« ins Stadion geht. Herbert Schröger berichtet, sie könnten heute zumindest in Ruhe ihr Ziel verfolgen: junge Fans vor brauner Propaganda schützen. Anton Löffelmeier sagt, er sei froh, einen Teil dazu beigetragen zu haben, dass die Verstrickung seines Vereins ins NS-Regime nicht weiter verschwiegen werden kann.
Alkohol Mit ihrem Einsatz haben sich Löffelmeier und Schröger in Giesing nicht nur Freunde gemacht. »Viele hat das Problem mit den Rechten einfach nicht interessiert«, sagt Schröger. »Vielleicht hatten sie Angst, die Ergebnisse meiner Nachforschungen könnten dem TSV schaden«, sagt Löffelmeier. Dass es noch immer genügend Anlass für ihr Engagement gibt, zeigte sich nach dem Jubiläumsspiel in einer Fan-Kneipe unweit des Stadions: Die Stimmung war gut, der Alkoholpegel hoch. Bei einigen sank die Hemmschwelle mit jeder weiteren Maß Bier. »Wir bauen eine U-Bahn vom FC Bayern bis nach Auschwitz«, grölten sie. Nur wenige sangen mit. Viele schwiegen. Niemand griff ein.