Leitartikel

Da hilft nur Anstand

Demonstration in Kassel zur documenta-Eröffnung am 18. Juni Foto: IMAGO/Hartenfelser

»Wann wird man je versteh’n? Wann wird man je versteh’n?«
Mit großem Aufwand zelebrierte Deutschland soeben 1700 Jahre jüdisches Leben. Stets wurde dabei auf das Grauen der Schoa und die daraus erwachsene Verantwortung zur Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft hingewiesen. Dennoch nehmen die Zahlen antisemitischer Straftaten und Zwischenfälle stark zu.

Man macht es sich zu leicht, diesen Anstieg als weltweites Phänomen hinzunehmen. Ja, man hasst Juden in Gaza, im Iran, in Indonesien … Wer dies stillschweigend akzeptiert und als Zeichen globaler Aufgeschlossenheit nach Deutschland einsickern lässt, der macht sich mitschuldig an einer Ausbreitung des Antisemitismus. Bis in deutsche Lande, etwa der documenta in Kassel, wo er sich mit der hier wabernden Judenfeindschaft vereinigt.

analyse Es ist nutzlos, antisemitische Vorfälle isoliert zu betrachten und sich darüber zu entsetzen. Analysiert man die Judenfeindschaft aber in ihren globalen und zeitlichen Ausprägungen, so erschließt sich deren simples Wesen. Antisemitismus ist, wo und wann immer er auftritt, bei aller unterschiedlichen Erscheinung ein gesellschaftliches Krankheitssymptom.

Man macht es sich zu leicht, den Anstieg judenfeindlicher Straftaten und Zwischenfälle als weltweites Phänomen hinzunehmen.

Dies erweist auch die geschichtliche Fieberkurve. Europäische Stationen sind der Beginn der Kreuzzüge, die Judenhetze des Reformators Luther, der sich modern gebende Antisemitismus Wagners, Karl Luegers, Houston Stewart Chamberlains, Hitlers bis zu den gegenwärtigen Israel-Hassern, die meinen, die »jüdisch-kapitalistischen Strippenzieher« entlarven und entmachten zu müssen, Antizionisten, BDSler – einschließlich deren Musterjuden.

Entscheidend bleiben die transepochale Unmenschlichkeit des Antisemitismus sowie dessen fortwährende Versuche, den uralten Hass zeitgemäß zu präsentieren und – nach Auschwitz – sich dabei selbst die Hände in Unschuld waschen zu wollen.

verbindungen Die Episoden besitzen gleichwohl logische Verbindungen. Seit 1291 verhöhnt das Relief der »Judensau« an der Stadtkirche zu Wittenberg die Hebräer und stachelt zum Hass gegen sie auf. Als ein Großteil der Bürger Analphabeten waren, wirkte die »Judensau« mit dem Segen der Kirche versehen als effektives Propagandainstrument. Doch selbst, nachdem die Leute Lesen gelernt hatten und ihr Glaube nachließ, entfalteten »Judensäue« in Wittenberg und an weiteren Orten ihre Hassbotschaft.

Die Kirchen, deren Pastoren Nächstenliebe predigten und sich auf das Neue Testament des Juden Jesus beriefen, beließen die Antisemitismus-Schleudern an ihrem Platz. Der Judenhass mochte weiterhin seine Wirkung entfalten. So wurde der Boden für die Nazis und andere bereitet.

Es ist nutzlos, antisemitische Vorfälle isoliert zu betrachten.

Als der NS-Völkermord sich 1945 nicht verleugnen ließ, gaben sich viele Politiker und Kirchenvertreter reuig. Die »Judensäue« blieben gleichwohl hängen und verbreiteten weiter ungehindert ihre Hassbotschaft. Es brauchte ein halbes Jahrhundert nach der Pogromnacht, ehe sich 1988 an Wittenbergs Stadtkirche ein Hinweisschild von der »Judensau« distanzierte. Die Wirkung blieb, wie die Zahlen erweisen, ebenso nutzlos wie Warnhinweise auf Zigarettenschachteln. Es wird weitergepafft – Juden weiterhin gehasst und erniedrigt.

klage Michael Dietrich Düllmann klagte gegen diese Hetze. Er verlor in allen Instanzen. Zuletzt wies der Bundesgerichtshof Düllmanns Einspruch ab. Die Logik der Richter ist abenteuerlich. Die Hinweistafel mache aus dem Schandmal ein Mahnmal. Damit sei es legitim. So ließe sich auch ein Wiederaufbau des Nürnberger Parteitagsgeländes rechtfertigen. Die Hassbotschaft gehört nicht in den öffentlichen Raum, sie beleidige die Juden, mahnte dagegen die frühere EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann. Einspruch! Die »Judensau« beleidigt die Würde aller anständigen Menschen.

Wer meint, Wittenbergs »Judensau« sei Schnee von gestern, die Menschen hätten seither gelernt, wohin Antisemitismus führe, der sieht sich durch die Schmierentragödie rund um die Kasseler documenta eines Schlechteren belehrt. Jüdische Künstler aus Israel wurden nicht an der größten Kunstausstellung beteiligt. Daran nahmen weder die Leiterin der documenta noch die ehemalige Kulturstaatsministerin Grütters oder die gegenwärtige, Claudia Roth, Anstoß.

Wann werden die Gleichgültigen, die Dummen, die Böswilligen je die Auswirkungen ihres Tuns verstehen?

Sie und andere setzten lieber auf die »Perspektive des Südens«. »Die Herkunft aus einem bestimmten Land sollte nicht vorab zu Verdächtigungen führen, möglicherweise antisemitisch zu sein«, erklärte Ministerin Roth. Die Herkunft gewiss nicht. Doch die Taten.

entrüstung Als sich ein Sturm der Entrüstung gegen neue Schmähungen von Juden als Schweinsköpfe, Raffzähne, SSler et cetera erhob, versuchte man es in bewährter Weise mit Ausreden, ehe zumindest ein Machwerk entfernt wurde. Taktische Entschuldigungen folgten. Neue antisemitische Versuche sicherlich bald auch.

Wann werden die Gleichgültigen, die Dummen, die Böswilligen je die Auswirkungen ihres Tuns verstehen? Als Marlene Dietrich, die das eingangs zitierte Antikriegs-Chanson sang, in ihrem letzten Interview gefragt wurde, wie sie zu ihrem klaren Antinazismus gelangt war, antwortete sie mit einem Wort: »Anstand«. Davon sollten wir uns leiten lassen.

Der Autor ist Historiker, Politologe und Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm der dritte Teil seines Familienromans, »Rafi, Judenbub«, bei LangenMüller.

Kommentar

Erdoğans Vernichtungswahn ist keine bloße Rhetorik

Der türkische Präsident hat nicht nur zur Auslöschung Israels aufgerufen, um von den Protesten gegen ihn abzulenken. Deutschland muss seine Türkeipolitik überdenken

von Eren Güvercin  01.04.2025

Essay

Warum ich stolz auf Israel bin

Das Land ist trotz der Massaker vom 7. Oktober 2023 nicht zusammengebrochen, sondern widerstandsfähig, hoffnungsvoll und vereint geblieben

von Alon David  01.04.2025

USA

Grenell könnte amerikanischer UN-Botschafter werden

Während seiner Zeit in Berlin machte sich Grenell als US-Botschafter wenig Freunde. Nun nennt Präsident Trump seinen Namen mit Blick auf die Vereinten Nationen. Aber es sind noch andere im Rennen

 01.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  01.04.2025

Judenhass

Todesstrafen wegen Mordes an Rabbiner in Emiraten

Ein israelischer Rabbiner wurde in den Vereinigten Arabischen Emiraten getötet. Der Iran wies Vorwürfe zurück, die Täter hätten in seinem Auftrag gehandelt. Drei von ihnen wurden zum Tode verurteilt

von Sara Lemel  31.03.2025

Vereinten Nationen

Zweite Amtszeit für notorische Israelhasserin?

Wird das UN-Mandat von Francesca Albanese um drei Jahre verlängert? Das Auswärtige Amt drückt sich um eine klare Aussage

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Meinung

Marine Le Pen: Zu Recht nicht mehr wählbar

Der Ausschluss der Rechtspopulistin von den Wahlen ist folgerichtig und keineswegs politisch motiviert

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Essay

Dekolonisiert die Dekolonialisierung!

Warum die postkoloniale Theorie jüdische Perspektiven anerkennen muss

von Lisa Bortels  31.03.2025

Türkei

Erdoğan: »Möge Allah das zionistische Israel zerstören«

Ein antisemitisches Statement von Präsident Recep Tayyip Erdoğan löst einen Streit mit dem jüdischen Staat aus

 31.03.2025