Nachruf

Chronist des Widerstands

Arno Lustiger sel. A. (1924–2012) Foto: Rafael Herlich

Eine Szene wie gestochen, obwohl sie so lange zurückliegt, Mitte der 90er-Jahre. Arno Lustiger und ich auf dem Territorium des ehemaligen Konzentrations- und Todeslagers Bergen-Belsen, mitten im Gelände und an diesem Morgen als die einzigen Besucher. Da beginnt es zu regnen, aber nirgends eine Unterkunft. Wir werden nass und gehen weiter. Diesen Gang hatten wir uns lange versprochen. Nun war es endlich so weit. Da griff der um ein Jahr Jüngere nach meiner Hand und sagte vier Wörter: »Die Kinder, die Kinder …« Ich könnte alt werden wie Methusalem, diese Szene wird immer wie eingebrannt in meinem Kopf sein.

freund Jetzt ist er gestorben, der Freund und Gefährte über mehr als ein halbes Jahrhundert hin – der Tod eines Aufrechten! Mein Nachruf gilt dem Chronisten des jüdischen Widerstandes, dem heftigsten Gegner der impertinenten Lüge, die Juden hätten sich »wie Schafe zur Schlachtbank treiben lassen«. Er hat in seinen Büchern die große Gegenrechnung gemacht, und das mit einer Zähigkeit, die diesem fragilen Überlebenden des Holocaust äußerlich gar nicht anzusehen war. Da, wo jüdischer Widerstand möglich war, hat es jüdischen Widerstand gegeben, und Arno Lustiger lieferte den Nachweis dafür.

Aber auch auf die Millionen von Juden, die sich dann vor die mobilen Mordkommandos der Einsatzgruppen und die Tore der Vernichtungslager gestellt sahen, traf die These von den »Schafen zur Schlachtbank« nicht zu. Waren sie doch bis dahin überall im deutschen Machtbereich schon tausend Tode gestorben, gedemütigt, geschlagen, enteignet und wie Vieh verfrachtet, bevor sie nun an der Endstation ihres Leidens angekommen waren – allen voran die deutschen Juden, die seit 1933 verfolgt wurden.

Welch ungeheuerliche Niedertracht also, welch unüberbietbare Ignoranz, mit der »Schlachtbank«-These nun den Opfern eine Mitverantwortung an ihrer Ermordung zuzuschanzen! Niemand war ein konsequenterer Anwalt dieser Hingemetzelten als der große Chronist des jüdischen Widerstandes – Arno Lustiger. Ich bin in Frankfurt einmal Zeuge geworden, wie der sonst eher zurückgenommene, ja, fast schüchterne Mann einem Verfechter der »Schlachtbank«-These in die dümmliche Parade fuhr – bleich und tief erregt. So habe ich ihn mit anderen, mit guten Vorzeichen, nur noch einmal erlebt: am Abend des 7. Mai 2005. Arno Lustiger rief mich an, schwieg eine Weile, in der man förmlich hören konnte, wie es in ihm arbeitete, und sagte dann: »Es ist wieder der Abstand …«

Der Abstand? Das war ein Codewort unserer Beziehung, über ein langes Leben hin – der Abstand zwischen damals und heute. Hier konkret: der Abstand zwischen der Situation des damaligen jüdischen Underdog Lustiger, des vogelfreien, todgeweihten Häftlings von Auschwitz, und der des hoch geachteten Publizisten und Historikers Arno Lustiger, der am nächsten Tag, dem 8. Mai 2005, im deutschen Bundestag die Rede zum 50. Jahrestag der Befreiung halten sollte. Eine nicht mehr messbare Distanz. Sie machte ihm das Reden schwer.

Die »Pathologie« aneinander gehaltener biografischer Messmodelle teilte Arno Lustiger übrigens mit vielen Überlebenden des Holocaust, auch mit mir. Letztlich ist sie der Ausdruck eines unüberwindbaren Staunens: selbst davongekommen zu sein. Es verschlägt einem die Sprache, immer noch.

helden Arno Lustiger – der Fleißige. Immer im Kontext mit Widerstand gegen den NS-Staat, nicht zuletzt dem des »Rettungswiderstands«, also von uniformierten und deshalb besonders gefährdeten Deutschen und Österreichern, wie dem Feldwebel Anton Schmid, der Hunderten von Juden in Wilna half und dafür hingerichtet wurde. »Ich wollte doch nur wie ein Mensch handeln«, schrieb er am Abend vorher seiner Frau und den Kindern. Erst später erfuhr ich, dass der Freund diesen Ausspruch lange wie ein Omen bei sich trug.

»Was für mich zählt, ist die Bereitschaft der Retter, Freiheit, Gesundheit und Leben, auch das der Angehörigen, einzusetzen, um den ihnen oft unbekannten Menschen beizustehen und sie zu retten.« Ohne Scheu spricht Arno Lustiger von »Helden« des Rettungswiderstandes. Vor dem Hintergrund deutscher Geschichte ist das ein schwer belastetes Wort.

Unermüdlicher Sammler von Zeitzeugen, setzte er sich auf die Spur der Tapferen, fahndete in den Archiven und trug historiografisch verwertbare Zeugnisse von etwa 100 widerständigen Soldaten der Wehrmacht bei. Das Ergebnis: Sie kamen aus allen Schichten der Bevölkerung, ohne gemeinsame Persönlichkeits- oder Sozialstruktur, nur beseelt von dem Willen, zu handeln und zu retten. Es war spürbar, wie sehr ihm gerade die deutsche Variante des Widerstandes am Herzen lag, ihr Glanz und ihr Elend. Gerade, weil er zu keiner Zeit Aussicht auf Erfolg hatte, sondern, vom eigenen Volk verlassen, ein Atoll im Pazifik der braunen Zustimmung war.

Arno Lustiger – der Gerechte. Wer nach Heroisierung sucht, der wird bei ihm nicht fündig, da folgt der Historiker Lustiger dem auf diesem Gebiet federführenden Freiburger Historiker Wolfram Wette. Spät berufen, hat der Frankfurter Bürger ein großes Werk zusammengetragen, mit dem Fokus Widerstand und Auflehnung gegen Autoritarismus und Totalitarismus, in seinen europäischen und globalen Dimensionen.

Heimat Arno Lustiger – der Universalist. Aber zur Heimat war ihm dann doch wohl dieses Land geworden, die Bundesrepublik, mit all ihren Schwächen, ihren Fehlern und Mängeln, ihrer zweiten Schuld und ihren Geschichtsverdrängungen. Und doch auch eine Erfolgsgeschichte. Ich wage dieses Verhältnis so zu definieren: Es hing ein Fluidum von Zärtlichkeit in der Luft. Nie habe ich das so deutlich gespürt wie bei Arno Lustigers Reaktionen auf Ehrungen: Freude und Verhaltenheit. Denn war die gleiche Auszeichnung nicht vorher schon an Leute verliehen worden, die man nicht mit der Fingerspitze berühren würde?

Ich erinnere mich noch genau an den Tag und die Stunde, ja, an seine Worte, die die Entscheidung brachten (übrigens auch für mich, der fast zeitgleich ausgezeichnet werden sollte): »Stell dir vor, du damals in deinem rattenverseuchten Kellerverlies, und ich auf dem Todesmarsch … und nun dies.« Dann sein Schlusssatz: »Hat sich in Deutschland nicht vieles verändert?«

Oh ja, lieber Arno, Freund, Gevatter, Urvergessener, oh ja – vieles.

Arno Lustiger wurde 1924 im oberschlesischen Bendzin geboren. Nachdem deutsche Truppen 1939 in Polen einmarschierten, schloss er sich dem Widerstand an und wurde verhaftet. Er überlebte vier Jahre Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern Sosnowitz, Annaberg, Otmuth, Auschwitz-Blechhammer, Groß-Rosen, Buchenwald und Langenstein, sowie zwei sogenannte Todesmärsche. Während des zweiten Marsches, vom KZ Langenstein aus, konnte er im März 1945 fliehen; US-Soldaten retteten ihn vor dem Erschöpfungstod. Nach 1945 baute er in Frankfurt/Main ein Unternehmen für Damenmoden auf. Zudem war er maßgeblich am Wiederaufbau der Frankfurter Jüdischen Gemeinde beteiligt. Erst spät begann er mit seinen historischen Studien. 1989 erschien sein Buch »Schalom Libertad!« über Juden im Spanischen Bürgerkrieg, 1994 »Zum Kampf auf Leben und Tod« über den jüdischen Widerstand. Im selben Jahr wurder er mit dem Bundesverdienstkreuz I. Klasse ausgezeichnet. 2005 hielt er im Deutschen Bundestag mit Wolf Biermann eine viel beachtete Rede zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Arno Lustiger hinterlässt eine Frau und zwei Töchter.

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