Das Grauen kündigte sich zunächst in der Gestalt eines Plakats an. Am Sonntag, den 28. September 1941, hing es in Bäumen und an den Zäunen von Kiew. »Alle Juden der Stadt Kiew und Umgebung müssen sich am Montag, dem 29. September 1941, um acht Uhr morgens an der Ecke Melnikowskaja und Dochturowskaja (neben dem Friedhof) einfinden«, stand da zu lesen. Ausweise, Geld und Wertsachen seien mitzubringen, ebenso warme Kleidung und Unterwäsche. »Jeder Jude, der dieser Anordnung zuwiderhandelt und an anderem Ort angetroffen wird, wird erschossen.« Diese Anordnung bildete den Auftakt zur größten einzelnen Mordaktion der Deutschen während ihres Vernichtungsfeldzugs gegen die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg.
80 Jahre ist das Massaker von Babyn Jar nun her. Die Erinnerung daran schmerzt immer noch. Am Montag teilte das Bundespräsidialamt mit, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit seiner Frau Elke Büdenbender auf Einladung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am 6. Oktober an einer Gedenkzeremonie in Babyn Jar teilnehmen werden. In Deutschland ist die Erinnerung daran trotz mancher Initiativen wie des katholischen Maximilian-Kolbe-Werks immer noch recht blass.
Vorgeschichte Das Grauen von Babyn Jar hatte eine Vorgeschichte. Denn bereits vor dem Massaker war es während des Vormarschs der deutschen Armee nach Osten zu Gewaltexzessen gekommen. Der von Adolf Hitler ausgerufene Kampf gegen den »jüdischen Bolschewismus« ließ bei manchen Deutschen und ihren Hilfstruppen sämtliche Hemmungen fallen. Anders als noch im Polen-Feldzug arbeiteten zudem Wehrmacht und die vom »Reichsführer SS« Heinrich Himmler gebildeten Einsatzgruppen eng zusammen, um die eroberten Territorien von vermeintlichen und tatsächlichen Partisanen sowie jüdischen Einwohnern zu »säubern«.
Das Grauen von Babyn Jar hatte eine Vorgeschichte. Denn bereits vor dem Massaker war es während des Vormarschs der deutschen Armee nach Osten zu Gewaltexzessen gekommen.
Direkter Auslöser des Massakers waren mehrere Bomben, die beim deutschen Einmarsch im Stadtgebiet von Kiew hochgingen und offenbar vor dem Abzug der sowjetischen Truppen dort platziert worden waren. Am 26. September 1941 trafen sich deswegen im »Zarenschlösschen«, dem Dienstsitz von Stadtkommandant Kurt Eberhard, Vertreter von Wehrmacht und SS, um über »Vergeltungsmaßnahmen« zu beraten. Unter diesem Vorwand setzten sie die Mordaktion gegen die noch in der Stadt verbliebenen Juden – zumeist Frauen, Kinder und ältere Männer – in Gang.
Der Aufforderung auf den Plakaten leisteten am 29. September Tausende Menschen Folge – zur freudigen Überraschung ihrer Mörder: »Obwohl man zunächst nur mit einer Beteiligung von etwa 5000 bis 6000 Juden gerechnet hatte, fanden sich über 30.000 Juden ein, die infolge einer überaus geschickten Organisation bis unmittelbar vor ihrer Exekution noch an ihre Umsiedlung glaubten«, heißt es in einer »Ereignismeldung«.
»Weiberschlucht« Über die Melnikowskaja, eine breite Allee, traten die Todgeweihten ihren Gang zur Hinrichtungsstätte an: die »Weiberschlucht« Babyn Jar. Wehrmachtssoldaten bewachten den Weg, in der Schlucht warteten die Todesschützen der Einsatzkommandos, die ihre Opfer mit Genickschüssen hinrichten sollten.
»Hier in diesem Höllenschlund endete die Geschichte einer großartigen jüdischen Welt.«
Yitzhak Rabin
»Mir ist heute noch in Erinnerung, in welches Entsetzen die Juden kamen, die oben am Grubenrand zum ersten Mal auf die Leichen in der Grube hinuntersehen konnten«, berichtete einer von ihnen, Kurt Werner. »Ein Großteil ging gefasst in den Tod«, heißt es in einer anderen Quelle scheinbar ungerührt. »Man hatte bei manchen den Eindruck, dass sie sich zur Erschießung geradezu drängten.«
Einen Tag später waren 33.771 Menschen tot, verscharrt im Sand von Babyn Jar. In den folgenden Monaten wurden Tausende weitere Menschen erschossen, darunter auch Sinti und Roma sowie sowjetische Kriegsgefangene. Die Täter setzten alles daran, ihre Verbrechen zu vertuschen. 1943, als der Vormarsch der Roten Armee nicht mehr aufzuhalten war, schickte Himmler ein Sonderkommando, bestehend aus KZ-Insassen, nach Babyn Jar, um die Leichen zu »enterden« und zu verbrennen. Die meisten Mörder wurden für ihre Untaten nie belangt.
In Babyn Jar hätten die Gewehrsalven die Träume kleiner Kinder vernichtet und die Herzen ihrer Eltern, »die sie mit ihren eigenen Körpern zu schützen versuchten«, sagte der damalige israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin 1995. »Hier in diesem Höllenschlund endete die Geschichte einer großartigen jüdischen Welt.«