Zwei Wochen vor der Neuwahl hat der britische Oberrabbiner eine Breitseite gegen die Labour-Partei und ihren Vorsitzenden Jeremy Corbyn gefeuert. Grund sind die zahlreichen antisemitischen Vorkommnisse in der Partei und ihr Umgang damit. Corbyn sei »ungeeignet für ein hohes Amt«, schrieb Ephraim Mirvis von der United Hebrew Congregations of the Commonwealth in einem ungewöhnlichen Kommentar in der »Times«.
Die große Mehrheit der Juden in Großbritannien sei voller Angst, denn sie frage sich, was aus ihr werde, wenn Labour nach der Wahl am 12. Dezember die nächste Regierung stelle, schrieb der Oberrabbiner der orthodoxen Juden des Landes. Labour sei von »einem neuen Gift« erfasst worden, habe antisemitische Vorfälle völlig falsch behandelt, es gebe ein »Kulturversagen«. Mirvis erwähnt, dass mindestens 130 Fälle von Antisemitismusvorwürfen von Parteigremien noch nicht aufgearbeitet seien. Tausende weitere seien zwar gemeldet, aber nichts geschehe.
Auch wenn ein Oberrabbiner sich nicht parteipolitisch äußern sollte, könne er nicht schweigen, wenn es um antijüdischen Rassismus geht, sagte Mirvis. »Die Seele des Landes« sei in Gefahr. Labour wies die Vorwürfe umgehend zurück. Auch die genannten Zahlen, die auf Angaben des Jewish Labour Movement zurückgehen, bestritt die Partei.
Die offizielle jüdische Parteiorganisation erklärte, dass sie Corbyn im Wahlkampf nicht unterstützen will.
PANNEN Die offizielle jüdische Parteiorganisation erklärte, dass sie Corbyn im Wahlkampf nicht unterstützen will. Während der Kampagne kam es schon wieder zu peinlichen Pannen. So stellte sich heraus, dass der auf Labour-Flugblättern prominent abgebildete junge Aktivist Keirin Offlands im Internet wüste Botschaften (»Ich hasse israelische Juden und Leute, die denken, dass der jüdische Staat eine gute Idee war/ist«) geschrieben hatte. Offlands hatte Israel mit den Nazis gleichgesetzt. Die Partei zog die Flugblätter mit seinem Bild schnell zurück.
Aus Sicht jüdischer Wähler ist der Brexit laut Umfrage das wichtigste Thema, doch folgt schon an zweiter Stelle die Sorge wegen antisemitischer Vorfälle in der Labour-Partei. Nur noch sechs Prozent würden Labour ihre Stimme geben. Fast eine Zweidrittelmehrheit der jüdischen Wähler, 64 Prozent, tendierte zu den Konservativen und Premierminister Johnson, ergab die Umfrage im Auftrag der »Jewish News« im Oktober. Stark zulegen werden demnach die Liberaldemokraten, die sich unter den jüdischen Wählern 24 Prozent erhoffen dürfen.
Viele jüdische Politiker haben in diesem Wahlkampf einen eher schweren Stand – aus unterschiedlichen Gründen. Einige prominente jüdische Labour-Abgeordnete haben die Partei verlassen, etwa die Ehrenvorsitzende des Jewish Labour Movement, Louise Ellman, nachdem sie lange unter Anfeindungen gelitten hatte.
Im Wahlkreis Barking in Ost-London gelang der langjährigen Abgeordneten Margaret Hodge gegen Widerstände die Wiederaufstellung als Kandidatin. Hodge, die seit 1994 im Parlament sitzt, war in der Partei unter Beschuss geraten, nachdem sie Corbyn 2018 im Unterhaus als Rassisten und Antisemiten bezeichnet hatte. Aktivisten wollten sie daraufhin abwählen, scheiterten aber.
Morddrohungen Auch die jüdische Labour-Abgeordnete Ruth Smeeth, die seit 2015 für Stoke-on-Trent im Parlament sitzt, tritt abermals an, wobei ihre Wiederwahl schwierig werden könnte. Ende November machte sie öffentlich, dass sie immer wieder Morddrohungen erhalte. Sie könne ihr Haus kaum noch verlassen, ihre Wohnung und die Büros habe sie wie Festungen ausgebaut. Die 40-Jährige trägt jetzt immer einen »Panik-Knopf« bei sich, um jederzeit die Polizei alarmieren zu können.
»Die Polizei hat eine Risikoabschätzung gemacht und gesagt, dass ich eine der Top-Ten-Abgeordneten bin, die zu einem Ziel werden können«, beklagte sie. Ob sie den Sprung ins Parlament wieder schafft, ist fraglich, denn in den Midlands wird Labour viele Stimmen an Leave-Wähler verlieren.
Zwei Drittel der jüdischen Wähler tendieren zu den Konservativen.
Umgekehrt tut sich der konservative Abgeordnete Zac Goldsmith, ein überzeugter Brexit-Anhänger, in seinem Wahlkreis Richmond im Londoner Südwesten schwer, denn die wohlhabende Wählerschaft dort ist stark pro-europäisch und linksliberal orientiert. Sein Sitz wackelt stark. Die Liberaldemokraten könnten dem jüdischen Konservativen das Mandat abnehmen. Goldsmith wehrt sich und betont sein ökologisches Engagement. Er sei der »grünste« konservative Parlamentsabgeordnete, wirbt er auf Flugblättern.
Für die Liberaldemokraten geht diesmal die jüdische Abgeordnete Luciana Berger ins Rennen, die Labour nach jahrelangen Hassbotschaften und Drohungen verlassen hat. Berger bewirbt sich im Wahlkreis Finchley and Golders Green im Londoner Norden um den Sitz, dem »Bagel Belt«, wo fast jeder fünfte Wähler jüdische Wurzeln haben soll.
Der bisherige Abgeordnete für Finchley, Mike Freer von den Konservativen, hat an die 7000 Mitglieder der »Brits living in Israel«-Facebook-Gruppe geschrieben und sie um ihre Stimmen gebeten; ursprünglich wollte er sogar in Israel persönlich auf Wahlkampftour gehen. Es dürfte ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Berger und Freer geben.
TORy Auf der Kippe steht die Wiederwahl von Dominic Raab, dem britischen Außenminister, der als Brexiteer in seinem Remain-Wahlkreis einigen Gegenwind spürt. Raab hat jüdische familiäre Wurzeln (sein Vater flüchtete 1938 nach dem Münchner Abkommen aus der Tschechoslowakei nach Großbritannien), ist aber wie seine Mutter Mitglied der Church of England.
Es könnte sein, dass Raab die Wiederwahl im Wahlkreis Esher and Walton in Surrey, südlich von London, nicht gelingt. Der hochrangige jüdische Tory-Politiker ist derzeit Verkehrsminister Grant Shapps, der in seiner Jugend als Präsident der BBYO (früher B’nai B’rith Youth Organization) amtierte.
Für Labour sitzt noch der frühere Parteivorsitzende Ed Miliband im Parlament, der sich als »jüdischer Atheist« bezeichnet und aus einer Familie polnischer Juden kommt. Er vertritt den nordenglischen Wahlkreis Doncaster North, eine traditionelle Labour-Hochburg, doch stimmten dort 2016 fast 70 Prozent für den Brexit, was seine Wiederwahl nun erschwert. Miliband war bis zur verlorenen Wahl 2015 Labour-Parteichef. Auf ihn folgte der Linksaußen Corbyn.