Es ist ein wenig beachtetes Kapitel des Holocaust, den man gemeinhin mit industrieller Massentötung in den Gaskammern von Auschwitz verbindet: der Mord an den ukrainischen Juden. Anderthalb Millionen Menschen wurden in der Ukraine und in Weißrussland zwischen 1941 und 1944 von den berüchtigten SS-Einsatzgruppen, von gewöhnlichen deutschen Soldaten und lokalen Kollaborateuren erschossen oder erschlagen. Das geschah in aller Öffentlichkeit. Wehrmacht und SS machten sich nicht einmal die Mühe, die Verbrechen zu verbergen. »Holocaust durch Gewehrkugeln« nennt dies der französische Geistliche Patrick Desbois, der seit 2002 die Ukraine bereist, um überlebende Zeugen der grauenvollen Massenmorde ausfindig zu machen.
Desbois sprach in der vergangenen Woche auf einer Pressekonferenz des American Jewish Committee (AJC) in Berlin über seine Arbeit als Präsident der Initiative »Yahad – in unum« (hebräisch und lateinisch für »gemeinsam«), die darin besteht, die über 10.000 bekannten Massengräber in der Ukraine, aber auch in Weißrussland und Russland, zu versiegeln und mit würdigen Gedenktafeln zu versehen. Viele Stätten seien aber noch unentdeckt, so der katholische Priester.
Parks und Gärten Inzwischen rennt die Zeit davon. Die Zeugen, die als Kinder oder Jugendliche die Erschießungen in ihren Dörfern mitansehen mussten, sind heute um die 80. Sie sind die Einzigen, die noch wissen, wo sich die Massengräber befinden – in Parks, in Gärten, auf Äckern. Das AJC appelliert daher zum 65. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz gemeinsam mit anderen Organisationen, darunter auch dem Zentralrat der Juden in Deutschland, an die Bundesregierung, den Schutz der Gräber politisch und finanziell zu unterstützen. Die Gräber müssten dringend versiegelt werden, da sie in der Vergangenheit immer wieder von Plünderern geöffnet wurden, die auf der Suche nach Wertgegenständen waren, sagte Philip Carmel, Direktor der Lo-Tishkach-Initiative zum Schutz jüdischer Grabstätten, auf der Pressekonferenz. »In den meisten dieser Orte gibt es keine jüdischen Gemeinden mehr«, so Carmel. »Wir wollen daher mit Gedenktafeln oder Museen Präsenz schaffen, sodass der Holocaust dort nicht in Vergessenheit gerät.«
Der Generalsekretär des Zentralrats, Stephan J. Kramer, wies darauf hin, wie wichtig die Zusammenarbeit mit der ukrainischen Regierung sei, um ein Gesetz zum Schutz der jüdischen Massengräber zu erwirken. »Der Krieg ist erst vorüber«, sagt Patrick Desbois, »wenn das letzte Opfer bestattet ist.«