Der Iran könnte nach Einschätzung von US-Präsident Joe Biden im Falle eines Durchbruchs bei den Verhandlungen um eine Waffenruhe im Gaza-Krieg von seinem angedrohten Vergeltungsschlag gegen Israel absehen. Auf eine entsprechende Frage von Reportern entgegnete Biden: »Das ist meine Erwartung, aber wir werden sehen.«
An diesem Donnerstag ist auf Drängen der USA, Katars und Ägyptens, die in dem Krieg zwischen Israel und der palästinensischen Terrororganisation Hamas vermitteln, eine möglicherweise entscheidende Gesprächsrunde über ein Abkommen für eine Waffenruhe und Freilassung von Geiseln geplant, voraussichtlich in Katars Hauptstadt Doha.
Anders als Israel lehnt die islamistische Hamas eine Teilnahme daran bisher ab. Man werde »nicht unter Beschuss verhandeln«, erfuhr die dpa aus Hamas-Kreisen. Allerdings war es die Hamas, die diesen Krieg begann, weiterhin Israel angreift und sich weigert, die Geiseln freizulassen. Letzterer Schritt könnte den Krieg sofort beenden.
Erklärtes Ziel
Die indirekten Verhandlungen würden auch dann fortgesetzt, wenn die Hamas nicht teilnehmen sollte, zitierte das »Wall Street Journal« arabische Vermittler. In dem Fall soll die Terrorgruppe über die besprochenen Bedingungen für ein Abkommen informiert werden.
In einer Botschaft aus Gaza an die arabischen Vermittler habe Hamas-Anführer Jihia al-Sinwar am Montagabend erklärt, wenn Israel ernsthaft verhandeln und die Hamas einbeziehen wolle, müsse es zuerst sein militärisches Vorgehen im Gazastreifen einstellen, berichtete die Zeitung. Sinwar wird im weit verzweigten Tunnelnetzwerk der Hamas unter dem abgeriegelten Küstenstreifen vermutet.
Erklärtes Ziel der Hamas ist eine Vernichtung Israels. Weitere Massaker im Stil des 7. Oktobers haben die Terroristen bereits angekündigt. Eine Waffenruhe könnte ihnen die Gelegenheit geben, sich neu zu gruppieren, um Israel später abermals zu attackieren.
Hochgekrempelte Ärmel
»Wir wollen, dass jeder am Donnerstag auftaucht, die Ärmel hochkrempelt und sich an die Arbeit macht«, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, in Washington. »Und gleichzeitig beobachten wir sehr, sehr genau, was der Iran und seine Stellvertreter diese Woche tun könnten«.
Das Weiße Haus ist laut Medienberichten besorgt, dass ein Angriff des Irans und der Hisbollah auf Israel die Verhandlungen über eine Waffenruhe sabotieren und ein mögliches Abkommen zunichtemachen würde. »Es wird schwierig«, sagte Biden. »Wir werden sehen, was der Iran tut, und wir werden sehen, was passiert, wenn es einen Angriff gibt. Aber ich werde nicht aufgeben.«
Nach der Tötung eines Militärkommandeurs der Hisbollah im Libanon und des Chefs der Hamas in der iranischen Hauptstadt Teheran ist weiter unklar, ob und wann der Iran und die Hisbollah die angedrohten Vergeltungsschläge ausführen werden.
Keine Entscheidungen
»Der Iran und die Hisbollah wissen nicht, was sie tun sollen. Es gibt viele Pläne, aber noch keine Entscheidungen«, sagte ein US-Beamter dem Nachrichtenportal »Axios«. Die USA als wichtigster Verbündeter Israels haben zwecks Abschreckung sowie zum Schutz Israels und der eigenen Soldaten zusätzliche Militärkräfte in die Region verlegt. Es wird befürchtet, dass es infolge eines Angriffs gegen Israel zu einem größeren Krieg in Nahost kommt.
Die US-Regierung genehmigte unterdessen neue Rüstungsverkäufe an Israel in großem Umfang. Der Kongress sei über den bevorstehenden Verkauf in Höhe von mehr als 20 Milliarden US-Dollar (rund 18 Milliarden Euro) informiert worden, teilte das US-Außenministerium mit. Dieser umfasse etwa mehr als 50 Kampfflugzeuge vom Typ F-15, Panzermunition sowie taktische Militärfahrzeuge.
Die Erfüllung solcher Verträge ist ein jahrelanger Prozess. Die Lieferung der Panzermunition soll erst 2027 beginnen, die der Kampfflugzeuge erst 2029. Es geht um die langfristige Ausstattung des israelischen Militärs, nicht um dessen Ausrüstung im aktuellen Krieg mit der Hamas in Gaza.
»Kreativ und durchsetzungsfähig«
Die USA, Katar und Ägypten hatten als Vermittler Israel und die Hamas kürzlich mit energischen Worten zu einem Abkommen gedrängt. Beide Seiten seien aufgefordert worden, die Gespräche am Donnerstag wieder aufzunehmen, »um alle verbleibenden Lücken zu schließen und ohne weitere Verzögerung mit der Umsetzung des Abkommens zu beginnen«, hieß es einer gemeinsamen Erklärung.
Man sei bereit, falls nötig einen letzten überbrückenden Vorschlag vorzulegen, der die verbleibenden Fragen der Umsetzung in einer Weise löst, »die den Erwartungen aller Parteien entspricht«. Man werde versuchen, »kreativ und durchsetzungsfähig zu sein, um die Sache über die Ziellinie zu bringen«, sagte Kirby.
Biden hatte Ende Mai den Entwurf eines Deals vorgestellt, der zunächst eine vollständige und uneingeschränkte Waffenruhe von sechs Wochen vorsieht. In diesem Zeitraum würde eine bestimmte Gruppe von Geiseln freigelassen. Im Gegenzug würden Palästinenser freikommen, die in Israel inhaftiert sind.
Zurückgewiesene Vorwürfe
Danach würden die Kämpfe dauerhaft eingestellt und die verbliebenen Geiseln freigelassen. In einer letzten Phase soll demnach der Wiederaufbau des Gazastreifens beginnen. Israels Ministerpräsident Netanjahu wies in Medien erhobene Vorwürfe zurück, plötzlich neue Bedingungen gestellt und die Gespräche damit torpediert zu haben.
Netanjahus rechtsextreme Koalitionspartner, Finanzminister Bezalel Smotrich und Polizeiminister Itamar Ben-Gvir, hatten jüngst gedroht, die Regierung platzen zu lassen, sollte Netanjahu einer Waffenruhe zu Bedingungen zustimmen, die sie ablehnen. Ben-Gvir provozierte mit einem Besuch auf dem Tempelberg, der drittheiligsten Stätte im Islam.
Die US-Regierung übte scharfe Kritik. »Lassen Sie mich klar und deutlich sagen, dass die Vereinigten Staaten fest für die Bewahrung des historischen Status quo in Bezug auf die heiligen Stätten in Jerusalem eintreten«, sagte der stellvertretende Sprecher des US-Außenministeriums, Vedant Patel.
Unsicherheit und Instabilität
»Jede einseitige Aktion, die diesen Status quo gefährdet, ist inakzeptabel«, sagte Patel. Man achte in den USA »sehr genau« auf Handlungen, die »zu größerer Unsicherheit und Instabilität in der Region beitragen«.
Ben-Gvirs Aktion falle darunter und lenke davon ab, die Verhandlungen über eine Waffenruhe im Gaza-Krieg »über die Ziellinie« zu bringen sowie schlussendlich eine Zweistaatenlösung zu erreichen. »Wir wissen, wie wichtig die heilige Stätte ist«, sagte Patel. »Wir fordern daher alle Seiten auf, den Status quo zu respektieren.«
Ben-Gvir hatte am Tempelberg gefordert, jüdisches Gebet an dem Ort zuzulassen. Der Ort ist auch Juden heilig, weil dort früher zwei jüdische Tempel standen. Netanjahus Büro teilte nach dem Besuch Ben-Gvirs mit, dass Israels Politik sich diesbezüglich nicht geändert habe. Später begrüßte US-Außenminister Antony Blinken diese Klarstellung und betonte, man erwarte von der israelischen Regierung, »dass sie ähnliche Vorfälle in Zukunft verhindert«. dpa/ja