Das Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« wird von Beginn an von einem Podcast begleitet (#2021JLID). Eine der Moderatorinnen, die Autorin Mirna Funk, brachte in der ersten Folge auf den Punkt, was ich selbst so drastisch wahrscheinlich nicht formuliert hätte, was aber leider stimmt. Sie sagte, dass Jugendliche über das Judentum »gar nichts wissen, außer dass sechs Millionen tot sind«.
Die Erfahrung, die Mirna Funk mit jungen Menschen gemacht hat, gilt auch für viele Erwachsene: Auf jüdisches Leben in Deutschland angesprochen, fällt ihnen als Erstes und häufig ausschließlich die Schoa ein. Auch das Wissen über die deutsch-jüdische Geschichte beschränkt sich bei vielen Menschen ausgerechnet auf diese zwölf Jahre.
umfragen Doch mitnichten ist es so, dass die Mehrheit der Bevölkerung gut über die Schoa Bescheid weiß. Im vergangenen Jahr zum Beispiel konnten in einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF nur 20 Prozent der Befragten angeben, dass für den Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz gewählt wurde. Fast 70 Prozent sagten, den Anlass für das Datum des Gedenktags nicht zu kennen. Andere Umfragen in der Vergangenheit brachten ähnliche Ergebnisse.
Es ist eine traurige Tatsache, dass sowohl über die Schoa als auch über den jüdischen Teil der deutschen Geschichte in der Bevölkerung nur wenig Wissen vorhanden ist. Dabei ist diese Geschichte so reichhaltig und birgt so vieles, was unser Land bis heute prägt.
chance Das Festjahr bietet daher die große Chance, ein Bewusstsein für 1700 Jahre Judentum in Deutschland zu schaffen. Aschkenas – so der mittelalterliche rabbinische Begriff für Deutschland – war eine Wiege blühender jüdischer Kultur, die durch Migration auch das osteuropäische Judentum stark geprägt hat. Bis heute sprechen Juden in manchen Städten der Welt noch Jiddisch, eine germanische Sprache mit hebräischen und slawischen Komponenten. Mainz, Worms, Köln, Regensburg und Fürth waren wichtige geistige Zentren, in denen jüdische Gelehrte gesellschaftliche Debatten anstießen.
Den wenigsten ist heutzutage das reiche Erbe des jüdischen Teils deutscher Geschichte bewusst.
Im 19. Jahrhundert entstanden auf deutschem Boden zentrale jüdische Strömungen, das Reformjudentum und die moderne Orthodoxie. Sie sind mit Namen wie Abraham Geiger, Leo Baeck sowie Seligmann Baer Bamberger und Esriel Hildesheimer verbunden. Große Denker, die für die Fortentwicklung der jüdischen Religion maßgeblich waren.
Den wenigsten Menschen ist heutzutage dieses reiche Erbe bewusst. Die Schoa hat nicht nur Millionen von Menschen vernichtet, sondern auch die Kultur des deutschen Judentums fast vollständig zerstört. Inzwischen können wir uns zwar glücklich schätzen, dass in Deutschland wieder Rabbinerinnen und Rabbiner ausgebildet werden, doch die schmerzliche Wunde, die die Schoa gerissen hat, bleibt.
Das Grußwort von Zentralratspräsident Josef Schuster ist erschienen in unserem 92-seitigen Magazin zu »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«.