Herr Musicant, die französische Regierung hat nach dem Anschlag in Moskau die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen. Fühlt sich die jüdische Gemeinschaft in Frankreich erneut bedroht?
Wir Juden leben mit diesem Gefühl seit dem 3. Oktober 1980, seit dem Anschlag auf die Synagoge in der Rue Copernic in Paris mit vier Toten und vielen Verletzten. Seitdem hat es weitere Angriffe gegeben, Morde, Bedrohungen aus verschiedenen Richtungen, nicht nur aus dem Ausland. Und seit den Hamas-Massakern vom 7. Oktober haben immer mehr Juden Angst. Deshalb hat es die jüngste Ankündigung der französischen Regierung nicht gebraucht, damit wir uns Sorgen machen.
Sind die Institutionen der Gemeinde nun gut geschützt?
Wir sehen generell eine verstärkte Präsenz von Polizei und Armee vor unseren Einrichtungen. Jedes Mal, wenn es einen Anschlag oder Gewalt gab. Wenn man das Gefühl hatte, dass es wieder ruhig ist, ist die Polizei wieder weg. Die Bewachung wird dann wieder eher sporadisch. Wir haben uns daran gewöhnt, in einem Schutzsystem zu leben, das unregelmäßig ist.
Hat der Schutz der Juden keine Priorität für die Regierung?
Das ist nicht unbedingt auf bösen Willen staatlicherseits zurückzuführen. Die französische Polizei hat schlicht sehr viel zu tun. Es gibt ständig Demonstrationen und viel zu wenige Beamte. In den kommenden Monaten muss die Polizei zudem die Sicherheit der Olympischen Spiele gewährleisten. Richtig ist aber, dass die jüdischen Bürger Frankreichs die einzigen sind, deren Einrichtungen besonders bewacht werden müssen. Für Muslime, Katholiken und Protestanten gilt das nicht.
Frankreich war zuletzt stark vom dschihadistischen Terrorismus betroffen. Jetzt bekannte sich der »Islamische Staat« zum Anschlag in Moskau. Muss man auch im Westen mit neuen Anschlägen rechnen?
Ich denke schon. Der hiesige Innenminister hat zwar gesagt, dass die Behörden mehrere Dutzend Attentate vereitelt und eine Reihe von Terroristen festgenommen hätten. Genaueres erfährt man aber selten. Wir wissen daher nicht, ob es sich um Dschihadisten oder um andere Gruppen handelt.
Wie soll man damit umgehen?
Ein Restrisiko ist immer da. Wir wissen nicht im Voraus, was geschieht, schon gar nicht in einem Europa ohne Grenzen. Heute ist es sehr einfach, von Belgien aus einen Anschlag in Frankreich zu planen – oder umgekehrt. Und wenn so etwas Schreckliches wie vergangene Woche mitten in Moskau passieren kann, in einem autoritären Land, in dem Armee, Polizei und Geheimdienste über beträchtliche Mittel verfügen, die uns hier so nicht zur Verfügung stehen, dann kann es auch hierzulande passieren.
Mit dem Journalisten und langjährigen Geschäftsführer des französisch-jüdischen Dachverbands CRIF sprach Michael Thaidigsmann.