Herr Sommer, seit 2018 leiten Sie mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Behörde, die wie keine andere in der Kritik stand. Inzwischen ist sie weitestgehend aus den Schlagzeilen verschwunden. Liegt es nur daran, dass die Pandemie inzwischen das alles bestimmende Thema ist?
Die Corona-Pandemie hat uns vor einem Jahr vor ganz neue Herausforderungen gestellt. Eine davon war, dass wir vor allem in den Außenstellen zahlreiche persönliche Kontakte haben, insbesondere bei den Anhörungen, und plötzlich überall die entsprechenden Hygienevorschriften eingehalten werden mussten. Es gab hier und für die Integrationskurse unterschiedliche Vorschriften in den Bundesländern, die dazu auch mehrfach geändert wurden. Ich denke aber, dass wir dies ganz gut gemeistert haben. Viele andere Probleme hatten wir auch schon vorher gelöst. Es ist mir gelungen, in der Behörde eine neue Struktur einzuziehen, die Aufgaben teilweise neu zu verteilen. Auch die Asylverfahren, die noch anhängig waren, konnten wir qualitativ hochwertig abarbeiten. So sind wir – zumindest in dieser Hinsicht – wieder bei normalen Verhältnissen angelangt.
Damals stapelten sich im Bundesamt die Asylanträge. Wie sehen die aktuellen Zahlen aus?
Die Asylzahlen sind seit 2019 deutlich gesunken. Auf den Migrationsrouten waren teils weniger Menschen unterwegs als in den Vorjahren, das lag auch an den Bedingungen der Pandemie. Wir hatten im vergangenen Jahr fast 103.000 Asylerstanträge, in diesem Jahr sind es aktuell in den ersten drei Monaten rund 28.000. Ich gehe nach jetzigem Stand davon aus, dass die Zahlen 2021 leicht über denen des vergangenen Jahres liegen werden, weil die Pandemie-Einschränkungen zurückgehen werden. Das sind Zahlen, die für mein Amt inzwischen gut zu bewältigen sind.
Deutschland war im europäischen Vergleich Zielland Nummer eins. Gilt das auch jetzt noch?
Betrachtet man die absoluten Zahlen, kann dieser Eindruck schon entstehen. Allerdings nicht Deutschland allein, denn inzwischen haben auch Frankreich, Italien und Spanien hohe Zahlen. Dennoch gehört Deutschland immer noch zu den zentralen Asylzielländern Europas.
Die Abarbeitung der Asylanträge ist das eine, die erfolgreiche Integration das andere. Wie steht es damit?
Das Bundesamt ist für Integrationskurse und die Sprachförderung zuständig, das sind die zentralen Instrumente der Erstintegration. In den Integrationskursen findet auch Werte- und Wissensvermittlung statt, das ist enorm wichtig für ein funktionierendes Zusammenleben aller Menschen in unserem Land. Allerdings ist der Besuch der Kurse durch die Pandemie schwieriger geworden, da sie in Präsenz nur beschränkt stattfinden konnten. Wir haben schnell reagiert und auf digitale Unterrichtsformate umgestellt, aber das ist nicht immer ein gleichwertiger Ersatz. In Alphabetisierungskursen beispielsweise ist der Präsenzunterricht kaum zu ersetzen.
Bei der Wertevermittlung wurde immer wieder eine klare Positionierung in der Frage Antisemitismus, Anerkennung des Existenzrechts Israels und Erinnerung an die Schoa gefordert. Gelingt das?
Im Bereich der Integrationskurse haben wir die Themen religiöse Vielfalt und Toleranz als zentrale Punkte verankert. Das beinhaltet, dass man die verschiedenen Religionen und Glaubensrichtungen darstellt, ihre Symbole und Feiertage, dass man das Recht der freien Religionsausübung hervorhebt und die Trennung von Kirche und Staat betont. In den Orientierungskursen geht es um die Werte unserer freiheitlichen Gesellschaft, um Toleranz und Respekt gegenüber Andersdenkenden, besonders gegenüber Menschen aus anderen Religionen.
1991 trat eine Regelung in Kraft, die es jüdischen »Kontingentflüchtlingen« aus der ehemaligen Sowjetunion erlaubte, nach Deutschland zu kommen. Inzwischen gilt deren Integration als beispielhaft. Wie sehen Sie das?
Ich meine, dass die jüdische Zuwanderung ein ganz besonderes Beispiel gelungener Zuwanderungssteuerung darstellt. Wir haben als Bundesamt 2005 die Zuständigkeit übernommen, steuern die Zuwanderung mit einem Punktesystem, aus dem eine Integrationsprognose resultiert. Ich habe die jüdische Zuwanderung selbst lange begleitet, bis 2018 als Beamter im bayerischen Innenministerium und jetzt als Präsident des BAMF. Insofern ist mir dieses Thema seit Jahren ein wichtiges Anliegen.
Ihre Behörde fördert Projekte zur Integration jüdischer Zuwanderer. Worum geht es dabei?
Wir haben immer in den Vordergrund gestellt, dass wir Akzeptanz, Toleranz und friedliches Miteinander in der Gesellschaft fördern. Was kann eine Verwaltungsbehörde dazu tun? Wir können Projekte anstoßen und Fördermittel vergeben. Insofern waren wir immer und sehr gerne mit dabei, entsprechende Projekte – von koscheren Kochkursen bis zu interkulturellen und interreligiösen Dialogen – in den jüdischen Gemeinden zu unterstützen. Jetzt unterstützen wir das neue Programm »Gemeindecoaching«, das viele Möglichkeiten für die Zukunft bietet, jüdische Gemeinden noch mehr zu stärken, als Orte der Integration und des kulturellen Austauschs.
Das Projekt wird gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden realisiert. Wie sieht die Förderung aus?
Wir stellen dafür allein 900.000 Euro – bei Gesamtkosten für das Projekt von 1,2 Millionen – zur Verfügung. Davon sollen 24 Gemeinden profitieren, in diesem Jahr beginnen wir zunächst einmal mit sechs Gemeinden. Es ist ein guter Ansatz, das Thema Integration zu fördern und jüdische Gemeinden zu ertüchtigen.
Ein Beispiel auch für nichtjüdische Communitys?
Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Wir haben ein in diese Richtung gehendes Programm auch schon für Moschee-Gemeinden auf den Weg gebracht. Diese Erfahrungen werden wir bündeln und ständig weiterentwickeln.
Seit 1993 sind mehr als 207.000 jüdische Zuwanderer nach Deutschland gekommen, anfangs noch 15.000 bis 20.000 pro Jahr. Wie sind die Zahlen aktuell?
Die Zahlen sind zurzeit gering, was auch der Pandemie geschuldet ist. Teilweise können in den Herkunftsländern derzeit keine Visa erteilt werden, es ist eine schwierige Situation. Abgesehen von dieser besonderen Situation konnten wir aber schon in den vergangenen zehn Jahren das Phänomen beobachten, dass die Zahlen im Bereich der jüdischen Zuwanderung zurückgegangen sind. Damals haben wir uns bemüht, auch bei den Zuwanderungsbedingungen Anpassungen vorzunehmen, großzügigere Lösungen zu finden, damit zum Beispiel auch die Eltern mit zuwandern können. Es ist uns gelungen, die Zahlen dann nochmals zu erhöhen, von 237 Zuzügen 2014 auf 1038 Zuzüge 2018. Im Jahr 2020 kam dann der Einbruch auf 365. Aber ich gehe davon aus, dass das ein Corona-Phänomen ist und im nächsten Jahr die Zahlen auch wieder steigen werden.
Der Zuzug von Spätaussiedlern hält unverändert an, der von jüdischen Zuwanderern nicht. Warum?
Ich habe Zweifel, ob man die Zahlen so einfach vergleichen kann. Wir haben bei den Spätaussiedlern, die laut Grundgesetz als Deutsche gelten, ganz andere Bedingungen, da gibt es beispielsweise kein Punktesystem. Es ist ein anderes Reglementarium.
Sind Sie der Auffassung, dass sich dieses Punktesystem mit der Erstellung von Integrationsprognosen für jüdische Zuwanderer bewährt hat?
Ich kann mit voller Überzeugung sagen, dass sich dieses Punktesystem für den speziellen Fall der jüdischen Zuwanderung sehr gut bewährt hat, und diese guten Erfahrungen habe ich bereits lange vor meinem Amtsantritt im Bundesamt machen dürfen. Bei der Fachkräftemigration haben wir aber eine andere Situation; hier hat der Gesetzgeber mit Recht von einem Punktesystem Abstand genommen.
Hat die jüdische Zuwanderung einen besonderen Stellenwert, oder ist sie zum Beispiel mit der Aufnahme sogenannter Boat-People aus Vietnam oder von Kriegsflüchtlingen aus Syrien zu vergleichen?
Der besondere Stellenwert der jüdischen Zuwanderung ergibt sich aus der Geschichte. Es kann für die abscheulichen Verbrechen der Schoa keine Entschuldigung geben. Wir als nachfolgende Generationen haben die Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass sich derartige Verbrechen niemals mehr wiederholen können. Und dazu gehört für mich, dass wir Menschen jüdischen Glaubens einen Ort bieten, an dem sie sich sicher und heimisch fühlen können.
Bei der Rente ist eine Ungleichbehandlung zu erkennen: Trotz vielfach gleicher Herkunft und Berufstätigkeit sind jüdische Zuwanderer gegenüber Spätaussiedlern benachteiligt. Warum?
Da bin ich überfragt, da sich unser Bundesamt nicht mit Rentenfragen beschäftigt. Ganz persönlich kann ich das Anliegen, hier zu einer Angleichung zu kommen, aber sehr gut nachvollziehen.
Sind Sie der Meinung, dass die Lebensleistung jüdischer Zuwanderer endlich gewürdigt und die aktuelle Diskriminierung im Rentenrecht schnellstens beendet werden muss?
Das sind politische Entscheidungen, die gesetzliche Anpassung muss über das Parlament erfolgen. Ich bin Leiter einer Verwaltungsbehörde, die dafür auch nach einer gesetzlichen Änderung nicht zuständig wäre.
Mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sprach Detlef David Kauschke.