Befreiung – an einem Ort wie Bergen-Belsen bedarf dieses Wort keiner Debatte. Sein tiefer Sinn ist unbestreitbar. Genauso unbestreitbar wie die unermessliche Schuld, die Deutsche in den Jahren zwischen 1933 und 1945 an ungezählten Orten in ganz Europa auf sich geladen haben.
Der Schrecken, der am 15. April 1945 mit der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen zu Ende ging, hatte sich nicht nur irgendwo weit »im Osten« zugetragen, hinter der Front oder in den besetzten Gebieten, sondern hier, mitten in Deutschland; in einer Region, in der die Aufklärer Leibniz und Lessing gewirkt hatten.
Und mitten in dieser Kultur, auf die wir stolz sind, mitten in dieser Geschichte, in der wir unsere Wurzeln haben, mitten in dieser Heimat, die wir lieben – mitten darin klafft ein unfassbarer Abgrund, der mit Worten wie »Schrecken«, »Schande« und »Schuld« nur unvollkommen beschrieben werden kann. Orte wie Bergen-Belsen, Buchenwald oder Dachau sind auf ganz besondere Weise Symbole dieses Abgrundes. Sie stehen für die unermessliche politische, moralische, kulturelle und humanitäre Katastrophe, in die das »Dritte Reich« der Deutschen das Land und die Menschen in ihm geführt hatte. ...
Wer die Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager besucht und sich mit der Frage konfrontiert: Wie konnte das alles geschehen?, kann erfahren, dass sich die sonst gefühlte Distanz zur Geschichte auflöst und in der Begegnung in eine große Klarheit verwandelt. Aus Trauer ergibt sich Erinnerung. Und aus individueller Erinnerung wird gemeinschaftliches Gedenken. Und dann spüren wir, welche Bedeutung in diesem Erinnerungsprozess liegt. Wir spüren, dass Erinnerung unseren Blick nicht nur zurück in die Vergangenheit lenkt, sondern dass es immer auch um Gegenwart und Zukunft geht. Wer in der Zukunft »in der Wahrheit« leben will, der braucht ein aufrichtiges und der Wahrheit verpflichtetes Erinnern, eines, das den Menschen zum Menschen macht – so, dass er das Leid seines Nächsten nicht gleichgültig hinnimmt, sondern es zu lindern oder zu beenden versucht, wo immer das möglich ist. So bildet das Humanum den eigentlichen Zielpunkt für Erinnerung und Gedenken.
So stehen wir hier in einer Verantwortungsgemeinschaft, die sich dazu bekennt, die Würde des Menschen und seine unveräußerlichen Rechte zu erhalten und zu verteidigen. Der Schrecken ist auch heute nicht verschwunden aus unserer Welt, doch mit dieser Haltung können wir ihm entgegentreten.
Wir müssen den Blick auf Geschehendes richten. Das ist unsere Lehre aus der Vergangenheit. Wo wir nur können, werden wir Unrecht ein Ende setzen. Und wenn uns die Mittel fehlen, um einzuschreiten, wenn wir machtlos sind, können wir immer noch mehr tun, als ohnmächtig wegzusehen. Wir können und müssen dann Zeugen sein und müssen Zeugnis ablegen. Das kann jeder von uns. ...
Wir Deutsche sind dankbar für das große Geschenk der Versöhnung mit unseren Nachbarn in Europa und allen Völkern, denen Deutsche damals unsagbares Leid zugefügt haben. Wir bekennen uns heute erneut zu dem Auftrag, die Verbrechen nicht zu leugnen oder zu relativieren und die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten. Indem wir an sie denken, sagen wir »ja« zu ihrem Auftrag an uns Nachgeborene: Bewahrt und schützt das Leben und die Würde des Menschen.