Interview

»Ben Gurion hatte Charakter«

David Rubinger (1924–2017) Foto: imago

Herr Rubinger, Sie kennen Israel, die Geschichte und Politik des Landes sehr genau. Sie haben selbst auch im Krieg gekämpft. Wie bewerten Sie die augenblickliche Lage?
Alle sind sehr besorgt, wie das enden wird. Nachdem täglich an die 100 Raketen auf Israel geschossen wurden, hatte man nicht sehr viele Möglichkeiten, dem Militär zu sagen, es solle stillhalten. Wie es angefangen hat, wer schuldig ist – das lässt sich erst im Nachhinein diskutieren.

Gibt es eine Lösung, dass die Menschen wieder zur Ruhe kommen?
Es gibt einige Möglichkeiten: Waffenstillstand, eine Pause für ein bis zwei Jahre, oder sogar eine endgültige Lösung. Das liegt in den Händen der Politiker. Der Bürger kann das leider nicht groß beeinflussen. Das ist dasselbe wie bei allen anderen Konflikten. Stillstand, Ruhe für ein paar Jahre, und dann bricht es wieder aus.

Letztendlich muss es eine friedliche Lösung geben – für Israel und den Nahen Osten. Löst man denn Gewalt mit noch mehr Gewalt?
Die Extremisten haben, wie so oft auf der Welt, die Oberhand. Es sind immer Extremisten, die den Ton angeben. Das war schon 1917 so, als Bolschewiken die Macht an sich rissen, obwohl sie eine Minderheit waren. Und da waren die Nazis, die eine kleine Partei waren.

Woran liegt das?
Weil die große Masse der Liberalen sehr inaktiv ist.

Ist der Krieg in Nahost auch ein Propagandakrieg?
Natürlich, solange es gutgeht. Dann verschwindet die Begeisterung, und es kommt eine neue Generation. Die Generation, die durch den Krieg gegangen ist, sagt: »Nie wieder Krieg!« Aber es ist der Menschheit noch nicht gelungen, dieses Gefühl an die folgende Generation weiterzugeben. Heute gibt es überall auf der Welt Menschen, die mit einem Hakenkreuz herumlaufen. Es ist nicht gelungen, die Schrecken des Krieges zu vermitteln. Sonst gäbe es keine Kriege mehr.

Könnte man den Konflikt möglicherweise stoppen, wenn Waffenlieferungen unterbunden würden?
Wenn die Hamas keine Waffen hat, wird sie mit Steinen töten. Solange die Menschen kämpfen und Blut vergießen wollen, werden sie immer einen Weg finden, dies zu tun.

Wann hat die Gewalt ein Ende?
Das liegt in den Händen der Politiker. Auf die kann man sich nicht so gut verlassen. Auf der palästinensischen Seite fürchten die politischen Führer um ihr Leben, auf israelischer Seite um ihre politische Stellung. Oder im schlimmsten Fall auch um ihr Leben, wie das tödliche Attentat auf Yitzhak Rabin 1995 gezeigt hat.

Sie haben die Geschichte Israels seit der Staatsgründung miterlebt und waren Zeuge von historischen Momenten. Zum Beispiel, als Ministerpräsident Menachem Begin und der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat bei ihrer legendären Nahost-Konferenz in den 80er-Jahren die Köpfe zusammensteckten. Was brauchen wir heute?
Menschen, die die nötige politische Kraft haben, am Ruder zu bleiben. Führungspersönlichkeiten, die wissen, in welche Richtung sie gehen wollen, und denen es gelingt, dem Volk zu sagen: »Ihr kommt mit mir, oder ihr sucht euch einen anderen Führer.« So stark wie zum Beispiel Ariel Scharon. Er konnte praktisch tun, was er wollte, denn das Volk glaubte ihm. Wenn Yitzhak Rabin oder Schimon Peres dasselbe gemacht hätten, was Scharon oder Menachem Begin gemacht haben – das wäre nicht gegangen. Wenn eine linke Regierung Frieden mit Ägypten geschlossen hätte, hätte es nicht funktioniert. Es musste ein Begin sein, der gesagt hat: »Keinen Zentimeter von Sinai.« Und zum Schluss wurde alles zurückgegeben. Golda Meir hätte das machen können. Al-Sadat hat genau das ein, zwei Jahre zuvor vorgeschlagen – Frieden und den Sinai zurückgeben. Golda Meir hat »Nein« gesagt. 1979 hat man genau das gemacht – nur, dass 3000 junge Menschen dafür sterben mussten. Auch 44.000 Amerikaner und eine Million Vietnamesen sind für absolut nichts gefallen. Das, was wir heute in Vietnam haben, hätten wir auch haben können, ohne ein Menschenleben dafür zu opfern.

Die Welt blickt gespannt auf Israel und den Nahen Osten – es gibt viel diplomatisches Tauziehen.
Jeder schaut Nachrichten, aber das tägliche Leben in der Hauptstadt wird kaum beeinflusst. Ich war heute im Café. Es war alles friedlich.

In Israel mehren sich kritische Stimmen. Wie empfinden Sie die Verhältnismäßigkeit der Mittel?
Gewalt zu messen, ist lächerlich. Zu sagen, bei uns gibt es zehn Tote, bei denen 100, das ist doch kein Maßstab. Aber Israel wird eben mit anderen Maßstäben gemessen als beispielsweise arabische Länder. In Syrien gibt es jeden Tag mehr Tote als im letzten Krieg. Die Welt interessiert sich dafür nicht. An Israel ist man interessiert, weil wir ein Teil der westlichen Welt sind. Und es ist auch so. Leider. Das sage ich als sehr liberaler Mensch: Dahinter stecken 2000 Jahre Antisemitismus. Man spricht über Israel und die Juden. Es sind schon wieder die Juden.

Wir brauchen aber doch eine politische Lösung?

Wenn Leute im Krieg sterben, dann ist es nicht die richtige Zeit, über politische Lösungen zu sprechen. Wenn es Menschen tun, werden sie schwer angegriffen und als Defätisten beschimpft, die die Moral der kämpfenden Jungs untergraben, die ihr Leben geben. Natürlich bin ich der Meinung, dass die Palästinenser nicht die alleinige Schuld an dem Konflikt tragen. Wenn ihr Bruder Auto fährt und in einen Baum rast, dann fragen sie ihn doch nicht: Kannst du nicht ordentlich Auto fahren? Du bist froh, dass dein Bruder am Leben ist und musst ihm helfen. Später kannst du ihm dann alles erklären, aber nicht in dem Moment. Das ist die Lage der Linken in Israel.

Wie geht Premierminister Benjamin Netanjahu aus der Situation hervor?
Gestärkt. Er hat die Sympathie der Linken, weil er mehrmals zum Waffenstillstand bereit war und die Hamas sich nicht daran gehalten hat. Das gibt ihm einen Pluspunkt in den Augen der liberalen Kräfte.

Ist der Frieden im Nahen Osten denn gar nicht möglich?
Es gibt eine Sache, die ist beinahe utopisch, aber sie existiert. Dazu braucht es unglaublich kräftige Führungspersönlichkeiten. Ein großer Teil der arabischen Welt hat Angst vor Extremisten. Es gibt bereits heute eine Koalition im Nahen Osten, bestehend aus Ägypten, Saudi-Arabien und Jordanien. Die Lösung wäre, dass sich die arabischen Staaten vereinen und gegen den extremen Islamismus erheben, der sie genauso bedroht wie uns – vielleicht sogar noch mehr. Das sehe ich als Möglichkeit. Und es müsste eine unglaublich starke Führung in Israel sein. Die theoretische Möglichkeit ist heute größer als je zuvor.

Was ist mit der palästinensischen Führung?

Präsident Abbas würde wollen. Es ist allerdings sehr fraglich, ob sich palästinensische Politiker finden, die den Mut haben, zur Versöhnung aufzurufen, solange diese eiternde Wunde bei den Palästinensern besteht. Aber wahrscheinlich braucht es dafür noch Zeit. Das ist vielleicht der positivste Teil in dieser Tragödie. In Israel müsste es eine Führungsschicht sein, die »Ja« zur Zweistaatenlösung sagt – jetzt sofort. Auf palästinensischer Seite müsste Abbas sagen: Die Zukunft unserer Kinder ist uns wichtiger als der ständige Krieg. Momentan ist das eine Utopie, aber es kann möglich werden.

Es geht um den alten Territorialkonflikt?

Jeden Tag gehen Tausende Tonnen Hilfsgüter von Israel nach Gaza. Es ist verrückt. Wir bekommen die Raketen der Hamas und liefern die Energieversorgung. Kein Mensch in Gaza hat das scheinbar im Bewusstsein. Und wenn, dann wagt er nicht, es auszusprechen.

Stehen die Israelis voll hinter der Regierung und der Politik?
Was diesen Krieg angeht, ja. Wenn Hunderte Raketen auf dich nieder gehen, bist du automatisch für das Militär. Wäre Netanjahu nicht der gewesen, der für den Waffenstillstand eingetreten ist, würde es anders aussehen. Seine Stärke liegt darin, dass die Linke ihn nicht beschuldigen kann. Er hat wirklich alles getan, um dieses Blutvergießen zu vermeiden. Ob aus ethischen oder moralischen Gründen, ist unwichtig.

Politiker möchten lieber als Friedensfürsten in die Geschichte eingehen und nicht als Menschen, die Kriege führen.
Da haben Sie recht. Aber es gibt ein Problem. Eine wahre Führerfigur ist nur die, die bereit ist, auf die Führung zu verzichten. Mit anderen Worten: ein Ben Gurion. David Ben Gurion hat gesagt, mich interessiert es nicht, was ein Volk will, es interessiert mich nur, was für das Volk gewollt sein sollte. Wenn das Volk nicht mit mir geht, gehe ich in meinen Kibbuz, und das Volk sucht sich einen anderen. Das braucht einen starken Charakter. Leider sehe ich bislang niemanden, der diese Persönlichkeit hat.

Jetzt war man gezwungen, wieder zuzuschlagen – war das eine Trotzreaktion?
Den Anfang haben die Raketen auf Israel gemacht. Wer hat angefangen – das ist die ewige Streitfrage. Wir Menschen sind so geschaffen, dass wir fühlen, wenn wir recht haben. In diesem Sinne sind wir immer noch kleine Kinder. Die Menschheit ist keinen Schritt weiter gekommen. Es wäre weiser zu sagen: Lasst uns an das Heute und – noch besser – an morgen denken. Der Klügere gibt nach. Es gibt wenige Konflikte, in denen eine Seite allein die Schuld trägt.

Wie kann oder sollte sich die internationale Staatengemeinschaft verhalten?
Mit Diplomatie können auch Kriege beendet werden. Eine diplomatische Lösung muss für alle Seiten ein Erfolg sein. Keiner möchte das Gesicht verlieren. Es gilt, das Beste für sein Land herauszuholen.

Mitgefühl ist doch der erste Schritt zur Versöhnung?
Im sozialen Netzwerk Facebook gibt es genügend solcher Meinungen von Menschen, die sagen: Moment mal, wir sind nicht die Einzigen, die leiden. In einem blutigen Konflikt gibt es moralische Menschen, aber die haben eine schwache Stimme. Nehmen Sie eine Racheaktion wie die Bombardierung Dresdens 1945 als Beispiel: Es gibt genügend Menschen im Westen, die sagen, dass dies nicht nötig war, dass es unmenschlich war. Aber: Wurde Churchill deshalb angegriffen? Nein. Leider bleibt die Moral auf der Strecke, sie wird später analysiert. Moral ist eine Qualität, die künstlich von Menschen geschaffen wurde. In der Geschichte gibt es keine Moral.

Sie selbst haben in Ihrer Familie ein furchtbares Gewaltverbrechen miterlebt. Ihre damalige Frau Ziona Spivak wurde 2004 von ihrem palästinensischen Gärtner ermordet. Wie kann man nach einer solchen Bluttat die eigene Wut, Fassungslosigkeit und Verzweiflung überwinden?
Ich habe meine persönlichen Erlebnisse verarbeitet. Es hat mich nie politisch beeinflusst. Vielleicht bin ich da anders als andere. Ich hätte es genauso verarbeitet, wenn es ein jüdischer Mörder gewesen wäre.

Mit dem israelischen Fotografen sprach Stefan Neubauer.

David Rubinger
wurde 1924 in Wien geboren, schloss sich in jungen Jahren der Kinder- und Jugend-Alija an und wanderte nach Palästina aus. Sein Vater konnte aus einem Konzentrationslager fliehen, seine Mutter überlebte die Schoa nicht. 1942 trat Rubinger in den Dienst der jüdischen Brigade bei der britischen Armee. In Paris bekam er seine erste Kamera geschenkt und hielt fortan einschneidende Momente der israelischen Geschichte fest. Seine Fotos sind in einer Dauerausstellung in der Knesset zu sehen. David Rubinger starb am 1. März 2017 im Alter von 92 Jahren in Jerusalem.

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