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Interview

»Belzec war das perfekte Verbrechen«

Stephan Lehnstaedt über die »Aktion Reinhardt«, Gedenkstätten und Erinnerungspolitik in Polen

von Ayala Goldmann  09.04.2018 17:54 Uhr

In der Bibliothek der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz: der Historiker Stephan Lehnstaedt (37) Foto: Uwe Steinert

Stephan Lehnstaedt über die »Aktion Reinhardt«, Gedenkstätten und Erinnerungspolitik in Polen

von Ayala Goldmann  09.04.2018 17:54 Uhr

Herr Lehnstaedt, Sie forschen zur »Aktion Reinhardt«, den deutschen Vernichtungslagern Treblinka, Sobibor und Belzec in Polen – und sprechen in diesem Zusammenhang von den »vergessenen Opfern« der Schoa. Lassen Sie dabei nicht die ausgeprägte Gedenkkultur in Deutschland außer Acht?
In Deutschland gedenken wir insbesondere der Opfer von Auschwitz. Viele wissen aber gar nicht, dass in Auschwitz »nur« etwa 1,1 Millionen von insgesamt etwa sechs Millionen jüdischen Opfern ermordet wurden. Vernichtungslager wie Treblinka mit 900.000 oder Belzec mit 500.000 Opfern sind Orte, die in Deutschland kaum jemandem etwas sagen. Dementsprechend wissen wir auch nichts über die Opfer, wir wissen wenig über ihr Schicksal, und wir kennen auch ihre Namen nicht.

Warum bezeichnen Sie die »Aktion Reinhardt« als Kern des Holocaust?
Sie ist der größte einzelne Tatkomplex. Wir haben in der »Aktion Reinhardt« mindestens 1,8 Millionen, eher zwei Millionen Opfer – fast ein Drittel der Toten des Holocaust wurde in den Lagern Sobibor, Belzec und Treblinka ermordet. Sie ist auch deswegen der Kern des Holocaust, weil die polnischen Juden die größte Opfergruppe waren. Über drei Millionen der jüdischen Opfer kamen aus Polen – so viele wie aus keinem anderen Land. Für die Nazis waren die polnischen Juden der größte Feind: Sie standen archetypisch für das Judentum, für den »Kaftanjuden«, den orthodoxen, den chassidischen Juden – obwohl diese frommen Juden auch in anderen Ländern lebten, wie in der Sowjetunion. Alle anderen außer den polnischen Juden sind natürlich keine Opfer zweiter Kategorie, aber die Morde ordnen sich gewissermaßen um die »Aktion Reinhardt« herum: Sobibor, Treblinka und Belzec in Ostpolen, Auschwitz südwestlich von diesen Lagern, Vernichtungslager wie Kulmhof/Chelmno im Westen, die Erschießungsstätten im Baltikum im Norden und die Massenerschießungen in der Sowjetunion im Osten. Die »Aktion Reinhardt« bildete also auch geografisch gesehen den Kern des Holocaust.

In Treblinka, Sobibor und Belzec gab es keine Zwangsarbeiter, den Opfern wurde keine Nummer auf den Arm tätowiert. In Treblinka, wohin fast alle überlebenden Juden aus dem Warschauer Ghetto deportiert wurden, vergingen eineinhalb Stunden von der Ankunft bis zur Ermordung …
Die Lager der »Aktion Reinhardt« waren reine Vernichtungslager. Hier geht es nicht um irgendwelchen Nutzen oder um pseudomedizinische Versuche, sondern es ist der reine Hass. Beraubung und Zwangsarbeit sind Nebenaspekte. Der Kern des Holocaust ist immer die Vernichtung.

Nur etwa 130 Menschen haben diese Vernichtungslager überlebt. Wie?
Fliehen konnten nur etwa 15, die meisten sind bei Aufständen entkommen. In Treblinka und Sobibor gab es zwei große Aufstände. Von 300 Beteiligten, die am unmittelbaren Tag des Aufstands entkamen, haben etwa 60 bis 70 bis Kriegsende überlebt. Sie haben sich in Wäldern versteckt, versucht, sich zu Partisanen durchzuschlagen, oder haben Polen gefunden, die sie versteckten. Besonders tragisch ist der Fall von Belzec – dort gab es keinen Aufstand und deshalb nur drei Überlebende.

Drei.
Einer ist entkommen, weil die SS ihn zu einer Einkaufstour als Arbeiter nach Lemberg mitnahm. Als die SS-Männer sich betranken, nutzte er die Gelegenheit zur Flucht. Der zweite Überlebende war ein chassidischer Rabbiner, von dem man weiß, dass er in Belzec war, aber er hat darüber nicht gesprochen. Einem dritten ist es ähnlich wie dem ersten gelungen, bei einem Transport der SS aus dem Lager zu flüchten. Es war nicht wie in Auschwitz, wo es einen riesigen Zwangsarbeitskomplex gab, wo Menschen überlebten, weil sie arbeiteten. Was wir heute in Auschwitz sehen, kann dazu führen, dass wir uns falsche Vorstellungen machen. Man sieht diesen riesigen Lagerkomplex und denkt, aha, das ist der Holocaust. Nein, das ist nicht der Holocaust, das ist Zwangsarbeit.

Aber es gab auch in Belzec, Sobibor und Treblinka Zwangsarbeiter – wie etwa die »Goldjuden«, die den Opfern Zähne mit Goldfüllungen aus den Kiefern brechen mussten.
Das schon, weil die Deutschen die Drecksarbeit natürlich nicht selbst machen wollten. Es gab mehrere Hundert Häftlinge, die geraubte Sachen sortierten und ausbesserten, den ankommenden Häftlingen die Haare schoren und dafür zuständig waren, die Gaskammern zu betreiben und die Leichen in die Gruben zu werfen. In diesen drei Lagern gab es im Unterschied zu Auschwitz keine Krematorien – anfangs wurden die Leichen nur in Massengräber geworfen. Später beschloss man, die Massengräber wieder zu öffnen und die Leichen doch zu verbrennen, auf gigantischen Scheiterhaufen. Und natürlich ließ man auch das jüdische Häftlinge machen, weil es eine unglaublich ekelhafte Arbeit war, Leichen, die seit mehreren Monaten bis zu einem Jahr schon halb verwest in der Grube lagen, wieder herauszuholen und dann zu verbrennen.

Welche Funktion hatten die »Trawniki«?
Die »Trawniki« waren Hilfskräfte der Deutschen, die aus Kriegsgefangenen der sowjetischen Armee rekrutiert und der SS verpflichtet wurden. Sie standen in der Hierarchie zwischen den jüdischen Häftlingen und der SS. Natürlich waren diese Leute Kollaborateure, aber vor moralischen Urteilen muss man sich hüten. In den Kriegsgefangenenlagern der Deutschen herrschte Hungersnot. Die Deutschen ließen im Krieg fast drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene einfach verhungern. Und wenn die SS-Männer dann kamen und einem verhungernden Häftling Arbeit anboten, war es leicht, ihn dafür zu gewinnen, denn es wurde ihm natürlich vorher nicht gesagt, dass es um Arbeit in einem Vernichtungslager ging, um Juden zu ermorden. Die Trawniki waren einerseits Opfer, aber auch Täter.

Der wohl bekannteste »Trawnik« war John Demjanjuk, der 2011 vom Landgericht München für seine Tätigkeit in Sobibor zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde – obwohl man ihm individuell keine konkrete Tat nachweisen konnte. Wie beurteilen Sie die juristische Aufarbeitung der »Aktion Reinhardt« nach dem Krieg?
»Trawniki« wurden oftmals nach 1945 in der Sowjetunion verurteilt, sie waren ja in der Regel sowjetische Staatsbürger. In Deutschland gab es für jedes dieser drei Vernichtungslager einen Prozess. Aber in Belzec gab es nur einen einzigen Überlebenden, der eine Zeugenaussage machen konnte, denn der Rabbiner hat nicht geredet, der zweite Überlebende wurde 1946 in Polen ermordet. Also trat nur der dritte Überlebende als Zeuge auf, aber seine Aussage war für die deutschen Juristen unzureichend. Er hätte den SS-Männern persönlich und individuell Mordtaten zuordnen müssen ...

... weil damals die reine Anwesenheit als SS-Mann im Lager nicht ausreichte, um verurteilt zu werden.

Genau. Und der Zeuge war traumatisiert, über 70 Jahre alt, und die Morde waren über 20 Jahre her. Er tat sich schwer, und das Ergebnis war, dass niemand in diesem Prozess verurteilt wurde. Und das finde ich sehr erschreckend, denn wir sprechen über 500.000 Tote. Belzec war im Grunde das perfekte Verbrechen. Im Sobibor- und im Treblinka-Prozess gab es Verurteilungen, und die Justiz verhielt sich offener gegenüber den Überlebenden und gestand ihnen auch Erinnerungslücken zu. Es ist also durchaus möglich, Täter zu verurteilen, wenn die Justiz das auch will. Anfang der 70er-Jahre konnte man noch den ehemaligen Kommandanten von Sobibor und Treblinka, Franz Stangl, verurteilen. Aber von den insgesamt etwa 150 deutschen Tätern – mehr brauchte man nicht für effizienten Massenmord – starb etwa ein Drittel noch während des Krieges, ist vermisst oder untergetaucht, ein weiteres Drittel wurde verurteilt, und dem letzten Drittel passierte gar nichts. Das ist bei einem Völkermord an 1,8 Millionen Menschen natürlich äußerst unbefriedigend.

Sie betonen, dass der Massenmord nicht aus wirtschaftlichen Gründen stattfand. Aber Sie beschreiben auch, wie sich die Täter in Belzec, Sobibor und Treblinka die Habseligkeiten der Juden angeeignet haben. Gab es Gewinn oder nicht?
Bei der Beraubung der Juden in Deutschland, deren Besitz zwangsarisiert wurde und die man zur Auswanderung zwang, machte man tatsächlich Gewinn – wenn man in wirtschaftlichen Kategorien denkt, was für sich genommen schon ziemlich pervers ist. Wenn man sich den Massenmord in Osteuropa anschaut, wird man feststellen, dass das natürlich nicht profitabel war. Es ging nicht um die Beraubung, sondern das primäre Ziel war, die Menschen umzubringen. Dass man sie dabei auch noch beraubte, passierte im Grunde, um die eigenen Kosten zu decken. Tatsächlich kam am Ende kein Gewinn dabei heraus. Es gibt natürlich individuelle Bereicherungen von Tätern, die Goldschmuck an sich nahmen und Ähnliches, aber wenn man das Ganze volkswirtschaftlich betrachten möchte, muss man sehen, dass es ein gigantisches Verlustgeschäft war.

Bei der sogenannten »goldenen Ernte« plünderten polnische Anwohner die Stätten, nachdem die Deutschen die Bauten der Vernichtungslager weitgehend beseitigt hatten. Wie erklären Sie sich, dass Menschen bereit waren, ganze Schädel mit nach Hause zu nehmen, in der Hoffnung, noch einen Goldzahn zu finden?
Das hat natürlich mit der Armut in den entsprechenden Gegenden zu tun, und es war verhältnismäßig leicht verdientes Geld. Dazu kommt, dass sich während des Krieges Vorstellungen von Moral verschoben haben, und es gab keine effektive Staatsgewalt. Dorfpolizisten, die 1945 versucht haben, Plünderungen zu verhindern, wurden sogar beschossen. So etwas passiert, wenn eine gesellschaftliche Ordnung einfach aufhört. Und das sagt uns auch etwas über die Universalität des Holocaust. Denn das ist nichts spezifisch Polnisches, sondern das konnte man auch in der Ukraine und in Teilen Russlands beobachten, wo es Exekutionsstätten gab.

Bei den Besucherzahlen können die Gedenkstätten in Sobibor, Belzec und Treblinka mit Auschwitz nicht »mithalten«. Nur deshalb, weil es dort mehr zu sehen gibt?
Schon während der Zeit des Kalten Krieges wurde die Aufmerksamkeit von polnischer Seite eher auf Auschwitz gelenkt, weil dort auch 200.000 katholische Polen ermordet wurden, und nicht »nur« Juden. Das ist bis heute so. Außerdem ist Auschwitz die universelle Chiffre für den Holocaust. Das kennt jeder. Auschwitz wird entsprechend vermarktet, und das meine ich völlig wertneutral. Zudem sind Sobibor, Belzec und Treblinka schlechter zu erreichen, und es gibt dort keinen großen Lagerkomplex zu sehen, sondern Waldgebiete. Ich persönlich finde, das hat etwas sehr Ruhiges und Würdiges – in Treblinka sind selten mehr als zehn oder 20 Leute auf dem gesamten Gelände. Aber ich wünsche mir trotzdem mehr Aufmerksamkeit für die Lager der »Aktion Reinhardt«, weil man gerade dort viel über den Holocaust lernen kann.

Die Gedenkstätte Sobibor hatte zeitweise große Finanzierungsprobleme. Hat die polnische Regierung Interesse daran, sie zu lösen?
Ja, für Sobibor gibt es jetzt Geld. Die Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung hat einen Antrag auf 900.000 Euro gestellt, und der wird im Auswärtigen Amt auch bewilligt. Insgesamt sollen das neue Museum und die Neugestaltung der Gedenkstätte vier bis viereinhalb Millionen Euro kosten, und man hofft, dass das Museum 2019 eröffnen kann. In Belzec hat man 2004 eine Gedenkstätte gebaut, auch mithilfe amerikanisch-jüdischer Organisationen. In Treblinka passiert momentan gar nichts. Hier ist großer Finanzierungsbedarf. Wir haben ein Museum, das im Grunde nur einen einzigen Mitarbeiter hat. Es gibt lediglich einen einzigen Seminarraum und drei kleine Ausstellungsräume – hier wäre sehr, sehr viel zu tun. Man muss aber sagen, dass die PiS-Regierung daran interessiert ist, dass die Deutschen etwas unternehmen – viel stärker als die Vorgängerregierung. Das mag auf den ersten Blick überraschen, aber für die Vorgängerregierung war Geschichtspolitik nicht so wichtig. Die jetzige Regierung ist durchaus konfrontativ und sagt: Es waren deutsche Verbrechen, die Deutschen haben zu zahlen. Auf diese Art und Weise wird zumindest deutlich, wer die Verantwortung trägt. Treblinka ist Ort eines deutschen Verbrechens. Natürlich sollen die Deutschen für eine Gedenkstätte zahlen, wer denn sonst?

Mit dem Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am Touro College Berlin und Autor von »Der Kern des Holocaust – Belzec, Sobibor, Treblinka und die Aktion Reinhardt« sprach Ayala Goldmann.

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