Die Anschläge von Paris sind beinahe drei Wochen her, langsam ebbt die überwältigende Welle der Solidarität mit den Opfern ab. Und während der einzelne Bürger inmitten der solidarischen Zivilgesellschaft sich seines Alleinseins wieder bewusst wird, macht sich ein Gefühl von Verunsicherung, Misstrauen und Angst breit.
Will man Angst überwinden, so muss man sie zunächst verstehen. Angst ängstigt. Angst und Stress machen die Gesellschaft krank. Angst essen nicht nur Seele auf, wie es in dem Kinofilm von Fassbinder heißt, Angst ist bekanntlich auch ein schlechter Ratgeber. Angst verengt den Weitblick, verbiegt das Rückgrat und macht vergesslich. Vergessen ist, dass bereits in den 80er-Jahren der ehemalige österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky in seinen Memoiren anmahnte: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Terrorismus.« Dieses real existierende Gespenst gehört seit Langem zur Alltagsrealität jüdischer Gemeinden.
panzerglas Nur zeigt sich die bürgerliche Zivilgesellschaft in Europa gegenüber ihren sogenannten jüdischen Mitbürgern, von einigen berührenden Solidaritätsbekundungen abgesehen, vielfach träge und unbeteiligt. Während früher Ghettos errichtet wurden, hinter deren Mauern Juden auf engstem Raum leben mussten, nehmen es die westlichen Gesellschaften heutzutage mit einem müden Achselzucken hin, dass sich jüdisches Leben im öffentlichen Raum oft hinter hohen Schutzmauern und Panzerglas zurückziehen muss. In Frankreich und Belgien patrouillieren Soldaten vor jüdischen Schulen und Kindergärten. Das ist kein Ausdruck von Paranoia, sondern von gesundem Überlebenswillen.
Zu den jeweiligen Gedenktagen wird, ob pflichtbewusst oder aufrichtig, alljährlich an die Opfer der Schoa erinnert. Gleichzeitig sehen zu viele Politiker und Bürger über die Tatsache hinweg, dass die Überlebenden und ihre Kinder den Gottesdienst nur unter Polizeischutz verrichten können. Das ist ein Skandal. Interessierte Besucher stehen vor abweisenden Sicherheitsbeamten und verstehen nicht, warum ihnen der Zugang verwehrt wird. Sie fragen sich, warum Synagogen ihre Pforten nicht sperrangelweit öffnen, so wie es sich für katholische und evangelische Kirchen ziemt. In dieser partizipatorischen Gesellschaft gehört es selbst für engagierte Bürger zur Normalität, dass Juden sich schützen müssen. Der Irrsinn ist zur Normalität mutiert.
attentat Zu diesem alltäglichen Irrsinn gehört es, die Angst abzuspalten und sie nur dort zu sehen, wo sie weit weg ist. War für die meisten hierzulande der Nahe Osten weit weg, so hat das Attentat von Paris Europa unfreiwillig näher an die nahöstliche Realität gerückt. Langsam dämmert es selbst israelkritischen Bürgern, dass Israel jenseits des Konflikts mit den Palästinensern all das verkörpert, was islamistische Fanatiker verachten und als Bedrohung wahrnehmen: ein freies, weltoffenes und selbstbestimmtes Leben. All das macht Islamisten mit ihrer fundamentalistischen Buchstabengläubigkeit Angst. Dass ausgerechnet Attentäter, die im Namen des Propheten morden, sich von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bedroht fühlen, diese psychologische Dynamik ist für den gesunden Menschenverstand kaum nachvollziehbar.
Es ist beeindruckend, wie schnell sich Europa nach den grausamen Anschlägen aus der Schockstarre gelöst hat. Die Solidarität mit den Opfern war nicht nur bewegend. Die Demonstrationen haben zugleich Europa wachgerüttelt und schmerzlich daran erinnert, was passiert, wenn die Demokratie sich selbst nicht mehr ernst nimmt. Terrorismus ist keine Fiktion mehr. Er ist ebenso Realität wie die Realität, die wir uns selbst erschaffen.
toleranz Angst will naturgemäß konfrontiert werden, will sie überwunden werden. Wir sollten und können die Bedrohung nicht verleugnen. Aber es ist auch wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass die Bundeskanzlerin, die Regierung und die Staatsorgane als Garant felsenfest für eine wehrhafte Demokratie stehen. Die vielen Kundgebungen gegen Pegida und für Toleranz und Weltoffenheit machen Mut. Es gibt Hoffnung. Für Juden in Deutschland besteht keine Notwendigkeit, die Koffer zu packen. Im Gegenteil: Die wehrhafte, streitbare Demokratie steht felsenfest für den Dialog der Religionen, das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit und pluralistische Toleranz.
Wie alle demokratisch gesinnten Bürger sind wir in dieser partizipatorischen Gesellschaft dazu aufgefordert, »das Gift für den gemeinsamen Traum einer friedvollen Menschheit«, wie es Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, trefflich beschrieb, gemeinsam zu bekämpfen. Und wenn in diesen trüben Zeiten die Wolken am Horizont sich verdunkeln und dennoch Ängste aufkommen, spätestens dann sollte man zu guter Literatur greifen und sich in Erinnerung rufen, dass es neben den bösen Geistern auch gute gibt.
Wie damals in Prag, als zu Zeiten von Rabbi Jehuda Löw im 16. Jahrhundert der Sage nach dem Golem, einem Geist aus Lehm, Leben eingehaucht wurde, um die Juden im Ghetto zu schützen. Glaube kann Berge versetzen. Vielleicht wird gar eines Tages die Prophetie von Jesaja (11,6) wahr werden: »Und der Wolf wird beim Lamm liegen«. Bis dahin wollen wir beherzt und aufrecht demonstrieren, uns engagieren, klare Kante gegen Angst, Einfältigkeit und Intoleranz zeigen – und unser jüdisches Leben offen und selbstbewusst leben.
Der Autor ist Diplompsychologe, Stressexperte und Verfasser des Buches »Die Kunst, gelassen zu bleiben«.