Jom Haschoa

Befreit, aber nicht frei

Kurz nach der Befreiung: Ehemalige Häftlingsfrauen in Bergen-Belsen schälen Kartoffeln unter dem Schutz der 2. britischen Armee. Foto: dpa

Auffallend viele Holocaust-Überlebende feiern im Frühjahr ihren Geburtstag. Zumindest ihren zweiten Geburtstag. Denn als die letzten von ihnen am 8. Mai befreit wurden, begann für sie ein neues Leben. Sie alle teilten zwar das Gefühl, ein zweites Mal geboren zu sein, doch damit enden schon die gemeinsamen Erfahrungen. Wie sie die Befreiung erlebten und sich ihr Leben in den Tagen und Wochen danach gestaltete, war höchst unterschiedlich.

Die Bilder des Grauens, die sich den Streitkräften der alliierten Armeen boten, gingen bald um die Welt. Was die sowjetischen Soldaten in Auschwitz, die britischen in Bergen-Belsen und die amerikanischen in Dachau zu Gesicht bekommen – darauf waren sie trotz jahrelanger Schrecken des Krieges nicht vorbereitet: Leichenberge, materielle Überreste der Toten und zu Skeletten abgemagerte Überlebende. Nicht immer war es leicht, zwischen Toten und Lebenden zu unterscheiden – und oftmals waren die noch Lebenden dem Tode geweiht.

Schwäche Für Tausende ausgehungerter KZ-Häftlinge, die jahrelang auf diesen Moment gewartet hatten, kam er zu spät. An den Folgen ihrer Auszehrung und Schwäche, an den im Konzentrationslager grassierenden Seuchen, aber oftmals auch an der falschen Ernährung in den ersten Tagen nach Jahren der Entbehrung starben in den Wochen nach ihrer Befreiung Tausende der Befreiten.

In Polen und anderen Ländern Osteuropas wurden noch nach Kriegsende Hunderte von Juden ermordet, da niemand mit ihrer Rückkehr gerechnet hatte und man fürchtete, sie wollten ihren Besitz und ihre alte Bleibe, die längst andere an sich gerissen hatten, wieder haben. Die Befreiten, die im Sommer 1945 in Bergen-Belsen oder noch im Sommer 1946 in Kielce starben, haben keine Stimmen hinterlassen. Doch die Perspektive einiger Überlebender auf ihre Befreiung erzählt eine andere Geschichte, wenn sie später darüber berichten konnten.

Der aus Wien stammende Ernest Landau, später als Journalist beim Bayerischen Rundfunk tätig, wurde auf einem der sogenannten Todesmärsche in der Nähe vom Starnberger See von amerikanischen Soldaten befreit.

Die Rettung hatte sich wenige Tage vorher angekündigt, als ein Komitee des Roten Kreuzes mit den Häftlingen Kontakt aufnahm. Bereits vor der Befreiung ließ die Moral der SS-Bewacher nach, und es gelang einigen litauischen Häftlingen, einem SS-Mann das Gewehr zu entreißen und ihn zu töten. Mit einem einzigen Gewehr hielten die Häftlinge die anderen SS-Männer in Schach, bis die Amerikaner die Kontrolle übernahmen.

Gottesdienste Eine der ersten Aktivitäten in Freiheit war ein improvisierter Gottesdienst. »Wir brachten einige Rabbiner zusammen und hielten den ersten Gottesdienst auf freiem Feld ab. Niemand hatte einen Hut, niemand eine Mütze, Taschentücher (um sich den Kopf zu bedecken) waren eine Seltenheit. Man hat versucht, irgendetwas als Kopfbedeckung zu nehmen, man hat sich eine Jacke oder KZ-Uniform über den Kopf gestülpt oder nur die Hand auf den Kopf gelegt.«

Nachdem die Lager in Polen evakuiert worden waren, befanden sich viele der osteuropäischen Juden auf Todesmärschen und erlebten die Befreiung in Orten wie Dachau, Flossenbürg oder Mauthausen.

Der aus Polen stammende Julius Spokojny, später Präsident der Jüdischen Gemeinde Augsburg, erinnerte sich an seine Enttäuschung nach der Befreiung im KZ Buchenwald: »Die Amerikaner haben damals viele Deutsche aus Weimar und Erfurt in das KZ Buchenwald hereingeführt. Ich war der Meinung, jetzt werden die im Lager bleiben, und wir gehen in ihre Wohnungen, nachdem die Deutschen das hier alles inszeniert hatten, für den Krieg und das Morden verantwortlich waren. Jetzt ist unsere Befreiung gekommen – wie soll das also anders möglich sein? Ich sah mir jeden Deutschen an und sagte mir: Jetzt bekomme ich seine Wohnung, und er geht in mein Lagerbett. Es hat sich aber herausgestellt, dass die am Abend wieder nach Hause geschickt wurden, ganz gleich, welche Verbrechen geschehen sind, und wir mussten in den Lagerbetten bleiben. Und noch jahrelang hat man uns in geschlossenen Lagern gehalten.«

In der Tat war die Befreiung für die meisten dieser nun als »Displaced Persons« eingestuften Menschen zuerst einmal ein Übergang von einem Lager ins andere. Gewiss, die Todesängste und die Qualen in den Konzentrationslagern gehörten nun der Vergangenheit an, aber oftmals blieb man in den DP-Lagern zunächst einmal weiterhin hinter Stacheldraht und war in seiner Bewegung eingeschränkt. Freiheit sah anders aus. So hieß es bald unter den jüdischen Überlebenden: »Wir sind befreit, aber nicht frei.«

DP-Lager Wie es den Einzelnen nun unter den neuen sowjetischen, amerikanischen, britischen oder auch französischen Machthabern ging, hing oft von deren Persönlichkeit ab. Einige der DP-Lager hatten jüdische Kommandanten, die sich des Schicksals der Überlebenden annahmen, und einige untergetauchte deutsche Juden entdeckten unter ihren Befreiern jüdische Offiziere. Vor anderen »Befreiern« musste man sich dagegen schützen.

Bekannt sind die Aussagen von den im Versteck überlebenden jungen jüdischen Frauen in Berlin oder Dresden, die sich erst einmal vor den sowjetischen Befreiern verstecken mussten, um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden wie andere junge Frauen, auf die die Soldaten bei der Befreiung Deutschlands stießen. Zudem glaubte man ihnen oft nicht, dass sie Juden seien. Hitler hätte ja alle getötet, mussten sie hören. Manchen gelang es erst durch die Rezitation des Schma Israel oder eines anderen hebräischen Gebetes, einen jüdischen Offizier ausfindig zu machen, der sie dann unter seine Fittiche nahm.

Hinzu kam, dass es unter den Amerikanern durchaus ausgesprochene Antisemiten gab, wie den Kriegshelden General George Smith Patton, der den Nazis in ihrer Behandlung gegenüber den Juden noch nachträglich recht gab. Für ihn, dem die DP-Lager in der amerikanischen Zone unterstanden, standen die Juden »niedriger als Tiere«.

Doch für die meisten Befreiten waren die alliierten Soldaten, egal welcher Nationalität, erst einmal ihre Retter. Viele von ihnen kümmerten sich um die Überlebenden, versorgten sie mit Nahrung, Kleidung und Wohnungen, und bedeuteten ihnen, dass sie von nun an in Freiheit lebten. Besonders emotional war die Befreiung für diejenigen, die nun einer Uniform gegenüberstanden, auf die ein Davidstern genäht war: Angehörige der Jüdischen Brigade aus Palästina, die kurz vor Kriegsende als Teil der Britischen Armee gebildet worden war und sich über Italien den Weg ins befreite Deutschland gebahnt hatte.

Jüdische Brigaden Wohl selten war die Begegnung auch noch so persönlich wie auf dem Nürnberger jüdischen Friedhof, wo Arno Hamburger, später langjähriger Vorsitzender der dortigen jüdischen Gemeinde, in der Uniform der Jüdischen Brigade kurz nach ihrer Befreiung auf seine in der Leichenhalle wohnenden Eltern traf. »Mein Vater kam mir entgegen und hat mich natürlich nicht erkannt. Erst als ich meine Mütze abgenommen habe, erkannte er mich. Er hat furchtbar geschrien und mich umarmt. Und dann kam meine Mutter, hat uns gesehen in der Umarmung, sie ist sofort ohnmächtig umgefallen. Wir saßen den ganzen Sonntagnachmittag beieinander. Sie erzählte mir, dass die Großeltern nach Sobibor gekommen sind, die Tante nach Izbica, der Onkel in Mauthausen erschossen wurde und die ganzen Dinge, die noch geschehen sind.«

Das Gefühl der Ernüchterung und die Gewissheit, allein auf der Welt zu sein, kam bald nach der Befreiung. Man lebte nun in Europa auf einem gewaltigen jüdischen Friedhof, auf der – wie es damals hieß – blutgetränkten Erde. Nach Hause gehen? Für die wenigen überlebenden deutschen Juden war das oftmals der erste Reflex, aber wen und was fand man zu Hause vor?

Josef Warscher, später Vorsitzender der Stuttgarter Gemeinde, kehrte aus dem KZ Theresienstadt nach Stuttgart zurück, doch er erkannte die Stadt kaum wieder – und niemand war da, ihn in Empfang zu nehmen: »Also, von wegen Empfangskomitee und so – null ... Der Bus hat uns im Osten der Stadt abgesetzt – und da war ich eben. Es ist schon komisch, sie steigen in irgendeinem Stadtteil aus, stehen mitten auf der Straße und fragen sich, was jetzt? Ich kam heim und es gab kein Heim mehr ... Ich kannte niemanden mehr, als ich nach Stuttgart zurückkam.«

Manche konnten es nicht verkraften, als Einzige ihrer Familien überlebt zu haben. Einige wollten selbst nicht weiterleben, nachdem ihnen das Ausmaß des Schreckens bewusst wurde. Andere kämpften für den Rest ihres Lebens mit seelischen Problemen. Doch für die Mehrzahl galt es nun, zumindest äußerlich ein neues Leben anzufangen.

Zweite Familien Nirgendwo anders gab es eine solch hohe Geburtenrate wie in den DP-Lagern in den ersten Jahren nach der Befreiung. Viele Ehen wurden nun geschlossen, und der Wille, Kinder zu haben, war auch eine Art des Triumphes über Hitlers Endzeitpläne. Für viele der Eltern waren es bereits ihre zweiten Familien, sie hatten ihre Ehepartner und ihre Kinder verloren.

Die Übergangsphase dauerte noch einige Jahre an. Erst als 1948 der Staat Israel gegründet wurde und bald darauf die USA ihre Einwanderungsbestimmungen lockerten, konnte für die überlebenden Juden ein neues Kapitel beginnen. Mit dem alten abgeschlossen hatten die wenigsten.

Der Autor ist Professor für jüdische Geschichte und Kultur in München sowie Direktor des Zentrums für Israel-Studien der American University in Washington.

Tage der Befreiung
Anfang 1945 rückten die Westalliierten, sowjetische und polnische Truppen weiter nach Deutschland vor. Von Osten näherte sich die Rote Armee, wo sie am 27. Januar 1945 das KZ Auschwitz und am 13. Februar Groß-Rosen befreite. Auf deutschem Boden folgten am 11. April Buchenwald bei Weimar, das am selben Tag wie Mittelbau-Dora durch US-Truppen befreit wurde. Am 15. April trafen britische Truppen in Bergen-Belsen ein. Am 22. April befreiten sowjetische und polnische Truppen das KZ Sachsenhausen. Das Lager Flossenbürg erreichten US-Truppen am 23. April. Am 29. waren es wiederum US-Truppen, die die Gefangenen von Dachau retteten. Am 30. April öffneten sich für die Gefangenen von Ravensbrück durch sowjetische Truppen die Tore zur Freiheit. Dazwischen lagen viele kleinere Lager, deren Gefangene auf dem Weg der vorrückenden Truppen befreit wurden.

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