Wir schreiben das Jahr 1987 im niederbayerischen Mallersdorf-Pfaffenberg. Zwei Brüder besuchen das Burkhart-Gymnasium in der 6000 Seelen zählenden Gemeinde. Einer von ihnen verfasst ein ziemlich übles Flugblatt, der andere transportiert es in seiner Schultasche. Darin ist die Rede von einem »Bundeswettbewerb: Wer ist der größte Vaterlandsverräter?«, in dem es unter anderem als Preise zu gewinnen gibt: »eine Nacht Aufenthalt im Gestapokeller«, einen »Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz« oder einen lebenslangen »Aufenthalt im Massengrab«.
Es gab Stimmen, auch prominente jüdische Stimmen, die meinten, darin keinen Antisemitismus zu erkennen. Auschwitz aber ist ein Synonym für die Schoa. Fast eine Million Juden wurden dort vergast oder auf andere Weise umgebracht, 90 Prozent der Todesopfer von Auschwitz waren jüdisch. Aber eine Verharmlosung von Auschwitz soll nicht antisemitisch sein? Wahrlich ein seltsames Verständnis von Antisemitismus.
Todesmarsch Auch von Dachau und den Nebenlagern des »Vergnügungsviertels Auschwitz« ist im Text die Rede. Dabei hätte der Verfasser (oder die Verfasser?) gar nicht so weit über seinen eigenen Tellerrand hinausblicken müssen. Zwei Kilometer vom Burkhart-Gymnasium entfernt befindet sich ein Denkmal für 67 jüdische Holocaust-Opfer, die kurz vor Kriegsende bei einem Todesmarsch aus dem Konzentrationslager Buchenwald in der Gegend erschossen wurden und im Ortsteil Oberlindhart begraben wurden. Ein Denkmal, das jeder im Ort kannte. Darüber hätte sich bestimmt eine treffliche Arbeit für den Bundeswettbewerb Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten, den dieses Flugblatt parodiert, schreiben lassen.
Ich kenne die bayerische Provinz ganz gut, und auch den besagten Wettbewerb. Sieben Jahre vorher habe ich in einer anderen bayerischen Kleinstadt in der benachbarten Oberpfalz an besagtem Wettbewerb teilgenommen und über die jüdische Gemeinde meiner Heimatstadt Weiden sowie über die Schicksale der nach 1945 dorthin gekommenen Juden, darunter meine Eltern, während der NS-Zeit geschrieben. Vom damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens, einem ehemaligen NSDAP-Mitglied, bekam ich damals den Preis für meine Arbeit ausgehändigt.
Eine andere Teilnehmerin des damaligen Wettbewerbs war Anna Rosmus, die im niederbayerischen Passau die Naziverstrickungen aufdecken wollte und dabei systematisch behindert, belästigt und sogar tätlich angegriffen wurde. Ihre Geschichte verfilmte wenige Jahre später der Regisseur Michael Verhoeven in dem sehenswerten Film Das schreckliche Mädchen.
Der Beschuldigte stellt sich vor allem als Opfer dar.
Ich selbst war niemals Bedrohungen und Gefährdungen wie Anna Rosmus in Passau ausgesetzt. Das mag auch daran gelegen haben, dass jeder in meinem Umfeld wusste, dass ich jüdisch war, und sich daher manche vielleicht scheuten, das auszusprechen, was sie wirklich dachten. Aber unter den Älteren im Ort gab es auch systematische Bestrebungen, sich Fragen und Auskünften über die NS-Vergangenheit zu verweigern und die noch lebenden Altnazis in Schutz zu nehmen.
Pädagogen Diese Schülerwettbewerbe waren in den 80er-Jahren wohlbekannt. Über 20.000 Schülerinnen und Schüler nahmen alleine in »meinem« Jahrgang 1980/81 an dem Wettbewerb zur lokalen NS-Geschichte teil. Engagierte Lehrerinnen und Lehrer warben in den Schulen für eine Teilnahme. Das Flugblatt stellt eine jugendliche Trotzreaktion dar, keine Frage. Und womit können Jugendliche mehr provozieren als damit, die Naziverbrechen zu relativieren oder sich darüber lustig zu machen! Aber lustig war das damals für die meisten eigentlich auch schon nicht.
Die 80er-Jahre waren eine Zeit, in der man endlich begann, sich auch im Alltag mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Sie wurden heftig in der Schule und in den Familien diskutiert. Sie ließen aber auch die Unterschiede im Umgang mit dieser Vergangenheit ans Tageslicht treten. Meiner Erfahrung nach wollte sich die große Mehrzahl junger Menschen ernsthaft mit den NS-Verbrechen auseinandersetzen. Dagegen gab es eine recht kleine Gruppe von Schülern, die ihre Rolle darin sahen, mehr oder weniger lautstark gegen diese verspätete Aufarbeitung der Geschichte auftreten zu müssen. Oftmals, aber keineswegs immer, waren es Kinder aus Familien mit Nazivergangenheit, die meinten, die Ehre ihrer Eltern oder Großeltern retten zu müssen. Manchmal wollten sie einfach nur provozieren. Auf welcher Seite der Geschichte sich die Aiwanger-Brüder damals sahen, ist jedem klar, der dieses Flugblatt liest.
Die Verfehlung eines 17-Jährigen ist 35 Jahre später kein zwingender Rücktrittsgrund für einen Politiker. Entscheidend ist nicht, was man damals von sich gegeben oder gedacht hat. Jeder, der in seiner Schulzeit Unsinn – und sogar sehr verletzenden Unsinn – verbreitet hat, soll die Chance haben, dies durch sein Verhalten im Erwachsenenalter zu korrigieren. Hubert Aiwangers Verhalten hat dabei bisher nicht wirklich überzeugt. Die Worte wie auch der Tonfall zeugten mehr von einer erzwungenen als von einer von Herzen kommenden Entschuldigung. Sie wirkten eher wie die Einleitung zu einer Anklage gegen diejenigen, die die Affäre aufgedeckt haben. Der Beschuldigte stellte sich vor allem als Opfer dar. Ist das Ganze also nur eine bayerische Provinzposse? Nein, sondern ein Lehrstück über den Umgang mit Deutschlands NS-Vergangenheit damals und heute.
Der Autor ist Historiker und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München.