Die Unruhen nach dem tödlichen Schuss auf einen Jugendlichen in Frankreich haben das Ausmaß der Unzufriedenheit in armen Vierteln offenbart – und der extremen Rechten eine neue Plattform gegeben. Der 17-jährige Nahel, ein Jugendlicher mit nordafrikanischen Wurzeln aus dem Pariser Vorort Nanterre, wurde am 27. Juni bei einer Verkehrskontrolle von einem Polizisten erschossen.
Anschließend wurde Frankreich von heftigen Unruhen erschüttert. Immer mehr Stimmen fordern seither eine harte Linie gegen Zuwanderung und machen Immigranten verantwortlich – nicht nur für die brennenden Autos, sondern auch für die sozialen Probleme Frankreichs. Nun durchbricht die Anti-Einwanderungs-Haltung der extremen Rechten die einst eherne Grenze zwischen ihr selbst und den etablierten Parteien.
»Wir kennen die Ursachen der Unruhen«, sagte Bruno Retailleau, Chef der konservativen Fraktion der Republikaner, die den französischen Senat dominiert, in der vergangenen Woche im Sender France-Info. »Leider gibt es für die zweite und dritte Generation (der Einwanderer) eine Art Rückschritt zu ihren Wurzeln, ihren ethnischen Ursprüngen.«
Populismus Retailleaus Äußerungen zogen Rassismusvorwürfe nach sich und spiegeln die derzeitige Linie seiner Partei, zu deren Prioritäten zählt, »die Masseneinwanderung zu stoppen«, damit Frankreich »nicht dauerhaft in Chaos versinkt«. »Sobald wir entschlossen sein wollen«, sagte Retailleau am Dienstag im Radiosender RTL, »sagen sie: »Oh làlà. Skandal! Die Faschisten kommen!« Doch wir sind es leid, politisch korrekt zu sein.«
Diese Aussage lässt die Republikanische Front, in der französische Parteien unabhängig ihrer politischen Couleur gemeinsam gegen die extreme Rechte auftraten, weiter bröckeln. Und indem Retailleau die Einwanderung mit den Unruhen in Verbindung brachte, verletzte er den in Frankreich fast unantastbaren Wert der Universalität, wonach alle Bürger, unabhängig von ihrer Herkunft, als Franzosen gelten.
Die Rechtsextremen scheinen aus dem plötzlichen Stimmungsumschwung in der öffentlichen Meinung Kapital zu schlagen: Schock und Entsetzen über den Tod Nahels verwandelten sich schnell in Schock und Entsetzen über die gewaltsamen Unruhen, die sich von den Außenbezirken der Großstädte bis in die Kleinstädte ausbreiteten.
In nur vier Tagen brachte eine Crowdfunding-Kampagne der extremen Rechten mehr als 1,5 Millionen Euro für die Familie des Polizisten zusammen, der der Tötung von Nahel beschuldigt wird. Politiker der extremen Rechten machen seit langem Einwanderer aus dem mehrheitlich muslimischen Nordafrika und deren mangelnde Integration in die französische Kultur für Frankreichs soziale Probleme verantwortlich.
Migration »Wir leiden unter einer Einwanderung, die völlig anarchisch ist«, sagte die Galionsfigur der Rechtsnationalen, Marine Le Pen vom Parteienbündnis Rassemblement National, vergangene Woche im Fernsehsender France 2. Die Krawalle sind ihrer Ansicht nach das Werk »einer Ultra-Mehrheit von Jugendlichen, die aus dem Ausland kommen oder ausländische Wurzeln haben«. Es gebe »eine Art von Abspaltung dieser Jugendlichen von der französischen Gesellschaft«.
Kritiker Le Pens weisen darauf hin, dass verschiedene französische Regierungen es versäumt hätten, neue Einwanderer zu integrieren, und dass Viertel mit vielen Migranten überproportional von hoher Armut, Arbeitslosigkeit und tief verwurzelter Diskriminierung betroffen sind.
Doch die Stimme der Anführerin der extremen Rechten erhält in Frankreich immer mehr Gehör. Le Pen hat Jahre damit verbracht, das Image ihres Rassemblement National aufzupolieren, und bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr mit 88 Abgeordneten einen mächtigen Anteil errungen.
Statistik Ihre Partei ist bei den Wählern fest verankert. Bei der Stichwahl um das Präsidentenamt im vergangenen Jahr erhielt sie mehr als 41 Prozent der Wählerstimmen. »Es gibt praktisch keine Bevölkerungsgruppen mehr, die gegen eine (rechtsextreme) Wahl immun sind«, erklärte das Meinungsforschungsinstitut Ifop nach einer Studie, die einen stetigen Anstieg der Stimmen für Le Pens Partei zeigte.
Die zentristische Regierung von Präsident Emmanuel Macron ging hart gegen die jüngste Gewalt vor, kommt bei der Charakterisierung der Krawallmacher jedoch zu einem anderen Schluss als Le Pen: Innenminister Gérald Darmanin betont, dass nur zehn Prozent Ausländer gewesen seien. Bei einer Senatsanhörung vergangene Woche wies er darauf hin, dass auch Kinder von Migranten in den Polizeidienst eintreten.
Regierungschefin Elisabeth Borne kritisierte die GoFundMe-Kampagne für die Familie des Polizisten als wenig hilfreich in solch einer angespannten Lage. Der Erfolg der Kampagne scheint jedoch den Ruf nach Sicherheit widerzuspiegeln – ein weiteres wichtiges Thema der Rechtsnationalen.
Jean Messiha, ehemaliger Funktionär des Rassemblement National und der neu gegründeten rechtsextremen Partei Reconquête, bezeichnete die enorme Resonanz auf die von ihm initiierte Spendenaktion als »Tsunami« zur Unterstützung der Polizeibeamten, »die in gewisser Weise täglich dafür kämpfen, dass Frankreich Frankreich bleibt«.
Verschwörungstheorie Die französische extreme Rechte hat viele Gesichter, vom Rassemblement National zur Reconquête von Eric Zemmour, dessen Vizepräsidentin Le Pens Nichte Marion Marechal ist. Sowohl Zemmour als auch Marechal vertreten die rassistische Theorie des »großen Austauschs«, wonach es ein Komplott gibt, den Einfluss weißer Menschen zu verringern und Kulturen zu verdrängen, vor allem durch Immigration.
An den Rändern des politischen Frankreichs gibt es eine rechtsextreme Bewegung, zu der auch Verschwörungstheoretiker gehören, deren Gewaltpotenzial den Behörden Sorgen bereitet. »Die terroristische Gefahr, die von ihr ausgeht, hat in den vergangenen Jahren in den westlichen Demokratien – insbesondere in Frankreich – zugenommen«, sagte Nicolas Lerner, Leiter des französischen Inlandsgeheimdienstes DGSI, in einem Interview der Zeitung Le Monde.
Die Ultrarechten glaubten, dass sie die Aufgaben des Staates übernehmen müssten, Europa vor Terroristen und dem »großen Austausch« zu schützen, und eine Möglichkeit, dies zu tun, bestehe darin, »einen Zusammenstoß zu provozieren, um die Chance auf einen Sieg zu haben, solange noch Zeit ist«.
Zehn Anschläge von Personen aus diesem Umfeld wurden nach Angaben Lerners seit 2017 vereitelt. Die Mainstream-Politik sei darauf nicht eingestellt: Der Ton des politischen Diskurses könne dazu beitragen, Rechtsextremisten zu schmieden, sagt Lerner. ap