Jüdische Verbände haben mit Kritik auf ein neues Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) reagiert, wonach eine Ausgleichsrente für NS-Opfer Hartz-IV-Leistungen senken kann. »Die Verhöhnung der wenigen noch lebenden Opfer des Nationalsozialismus kann nicht widerstandslos hingenommen werden«, sagte die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen.
»Die ZWST wird die künftige Entwicklung dieses Falles intensiv beobachten und dessen Konsequenzen klar benennen und sich diesen entgegenstellen«, betonte die Zentralwohlfahrtsstelle. Das Einräumen der Möglichkeit, Entschädigungsleistungen als Einkommen zu werten, stelle einen Paradigmenwechsel in der »Wiedergutmachung« im Sinne materieller Leistungen für während der NS-Zeit erlittenes Unrecht dar und sei der Versuch, Zahlungen für durch Deutschland verursachtes Leid und Elend wieder an den Staatshaushalt zurückzuführen.
Sowjetunion Im Fall eines jüdischen Immigranten und NS-Opfers aus der früheren Sowjetunion urteilte das BSG Ende vergangener Woche, dass die ihm gewährte Rente den Bezug von Hartz IV mindern kann. Der 1940 geborene und in Berlin lebende Mann war als NS-Opfer anerkannt und erhielt deshalb eine monatliche Grundrente nach dem Bundesentschädigungsgesetz in Höhe von 305 Euro monatlich.
Das Land Berlin zahlte ihm nach dem Landesgesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus außerdem eine sogenannte Ausgleichsrente von monatlich 825 Euro.
Seine Ehefrau und seine zwei Kinder waren auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen und lebten mit dem Kläger in einer Bedarfsgemeinschaft. Das Jobcenter Berlin Tempelhof-Schöneberg gewährte zwar Hartz-IV-Leistungen, rechnete jedoch die Ausgleichsrente des Vaters teilweise als einkommensmindernd an. Die Ausgleichsrente diene dem Lebensunterhalt, sodass sie als Einkommen anzurechnen sei, lautete die Begründung.
Berücksichtigung Das Bundessozialgericht verwies das Verfahren wegen fehlender Feststellungen an die Vorinstanz zurück. Eine Berücksichtigung der Berliner Ausgleichsrente für NS-Opfer als Einkommen sei aber nicht ausgeschlossen, befanden die obersten Sozialrichter.
Kritik an dem Urteil äußerte auch die Jüdische Gemeinde zu Berlin. »Es ist ein Unding, dass der Bezug von Entschädigungszahlungen an Holocaust-Überlebende den Bezug von Hartz-IV-Leistungen mindern kann«, erklärte die Jüdische Gemeinde. Es bestehe dringender Bedarf, das Urteil zu revidieren.
Der Grünen-Politiker Volker Beck, der seit Langem für eine angemessene Rente für Holocaust-Überlebenden streitet, nimmt ebenfalls Anstoß an dem Urteil. »Es widerspricht dem Entschädigungsgedanken, wenn Schoa-Überlebenden die Sozialleistungen gekürzt werden, weil sie Leistungen für ihre Verfolgungsgeschichte erhalten.«
Kontingentflüchtlinge Die Schäden der Verfolgung verdienten einen Ausgleich, der nicht mit anderen Leistungen verrechnet werden dürfe, betonte Beck. »Hier muss die Politik jetzt handeln. Dieses Problem betrifft insbesondere jüdische Kontingentflüchtlinge, da diese anders als Spätaussiedler, die eine Rente nach dem Fremdrentengesetz erhalten, regelmäßig nur Grundsicherung im Alter erhalten.«
Sergey Lagodinsky, Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, sagte zu dem Urteil des Bundessozialgerichts auf Anfrage dieser Zeitung: »Der Fall zeigt einmal mehr: Solange Schoa-Überlebende und ihre Nachfahren in Deutschland auf Hartz IV und Grundsicherung angewiesen sind, bleibt ihr Leben für immer prekär und funktioniert nach dem Almosen-Prinzip.«
Es könne nicht angehen, dass ihre Existenz im Ermessen des Staates stehe, so Lagodinsky. »Eine Änderung muss her und zwar dringend – bevor die Zeit das Problem endgültig und unwiederbringlich löst.« ja (mit epd)