9. November

Ausgeblendet

»Was die Geschichte überliefert, wird uns lebendig aus unserem eigenen Zeitalter.« (Karl Jaspers 1949) Foto: dpa, (M) Marco Limberg

Am 9. November 1938 gab Reichsminister Joseph Goebbels den Befehl zur »Judenaktion«. In der Bevölkerung, vor allem in Berlin, bekam dieses Ereignis bereits am Tag danach den Namen »Kristallnacht«. Was als ironischer Spott gegen die Nazis gedacht war, ist seit den 80er-Jahren politisch korrekt zur »Pogromnacht« mutiert. Deutschland empfindet sich heute wie in einem anderen Leben. Das Geschehene wird als eine geschichtliche Phase betrachtet, die glücklicherweise hinter uns liegt. »Pogrom«, ein Begriff aus dem Slawischen, soll vielleicht auch ausdrücken, dass so etwas bei uns heute nicht (mehr) möglich ist. Wirklich?

Zum Pogrom gehört auch Pogromstimmung. Sie ermöglicht, was der Anstand verbietet und verhindert. In ihr und aus ihr heraus entsteht die vermeintliche Gewissheit, mit seinen Ressentiments auf der »richtigen« Seite zu stehen, ja, das Recht zu haben, dort stehen zu dürfen. Diese Gewissheit entfesselt in den Menschen zerstörerische Kräfte, die sonst zurückgehalten werden.

gruppendynamik Vor diesem gruppendynamischen Mechanismus sind auch die nicht gefeit, die sich selbst als aufgeklärt und ideologiefrei betrachten. Im Gegenteil. Jüngstes Beispiel: die Beschneidungsdebatte. Ein missionarischer Eifer, den man sonst nur von Ideologien oder religiösen Kulten kennt, gelangte hier zur plötzlichen Eruption. Dass dabei Ressentiments am Werk sind, wird schon durch die Sprache und die Assoziationen deutlich. Das Neue daran ist, dass diese Pogromstimmung mit einer diffusen Erinnerungskultur einhergeht.

Exemplarisch sind jene 700 Akademiker, zumeist Juristen und Ärzte, die anlässlich des Kölner Urteils in einem Offenen Brief ihre Kritik am Judentum damit anführten, ein »assoziativer Verweis auf den Holocaust« sei für sie als »Vertreter des Kinderschutzgedankens« »nicht hinnehmbar«. Diese »Assoziation« stand allerdings nur bei den Verfassern und Unterzeichnern selbst im Raum. Es folgte der mit Ausrufezeichen versehene Hinweis: »Man tut Kindern nicht weh!«

Erst wurde die Erinnerung nach eigenem Gusto zurechtgerückt, anschließend ausgeteilt. Was danach in Internetforen – auch und gerade seriöser Medien – folgte, kann man nur als virtuelle Pogromstimmung bezeichnen. Eine Welle von Hass, Wut und Dummheit brandete auf. Alle Dämme brachen. Offener Antisemitismus ging von deutschen Tastaturen aus wie kaum jemals zuvor.

terror phase 1945 schrieb der emigrierte Soziologe Leo Löwenthal: »Es gibt eine weitverbreitete Ansicht, derzufolge faschistischer Terror eine vorübergehende geschichtliche Phase sei, die glücklicherweise nun hinter uns liege. Ich kann mich dieser Ansicht nicht anschließen.« Wenn Löwenthal 2012 bloß einen flüchtigen Blick darauf hätte werfen können, was über Juden in Blogs, Foren und Chats gepostet, bei Podiumsdiskussionen selbst von gebildeten Teilnehmern schwadroniert oder in den Leserbriefspalten deutscher Zeitungen veröffentlicht wird, er würde sich zu seinem Bedauern bestätigt fühlen.

Diese virtuelle Pogromstimmung haben viele in der Öffentlichkeit stehende jüdische Repräsentanten (aber beileibe nicht nur sie) in den vergangenen Monaten erfahren. Gleichzeitig wird gerade in diesen Tagen wieder eine Erinnerungskultur in der Öffentlichkeit und den etablierten Massenmedien gepflegt, bei der es ständig »Nie wieder!« hallt. Auch diesmal werden diese zwei Worte in wohl kaum einer Ansprache zum 9. November fehlen.

pflichtübung Die Betroffenheit ist dabei durchaus echt, selbst wenn das Gedenken vielerorts eher einer lästigen Pflichtübung gleicht. Wohlfeil wird diese Betroffenheit aber spätestens dann, wenn sie die Stimmung verleugnet, die jedem Pogrom zugrunde liegt, ob realem »Reichspogrom« damals oder virtuellem »Bundespogrom« heute. Im Nachhinein gibt es Solidarität für frühere Opfer des Judenhasses. Zum gegenwärtigen Hass, zu heutigen Stimmungen wird dagegen eher geschwiegen.

Natürlich brennen keine Synagogen; natürlich wird niemand deportiert. Aber die virtuelle Pogromstimmung ist eine Tatsache, ebenso ihre Dynamik, und die Atmosphäre lässt sich durchaus vergleichen. Die Kräfte von damals und die von heute weisen Gemeinsamkeiten auf, am auffälligsten in der Emotionalisierung.

Unsere Gedenkkultur muss auf den Prüfstand, wenn Gedenken eine nach vorne gerichtete Tätigkeit sein soll, statt nur das Vergangene durch Stimmungen zu verlängern. Wohlfeile retroaktive Solidarität ohne Bezug auf Gefahren in der Gegenwart festigt eher die unmoralischen Konstanten einer Mentalität, die Deutschland seit über hundert Jahren nur Katastrophen bescherte. Die Juden waren dabei stets nur die Ersten, die betroffen waren. »Was die Geschichte überliefert, wird uns lebendig aus unserem eigenen Zeitalter. Unser Leben geht voran in der wechselseitigen Erhellung von Vergangenheit und Gegenwart«, schrieb Karl Jaspers 1949. Damals hat man nicht auf ihn gehört. Und heute?

Interview

»Wir müssen viel mehr für die Rückführung von Antisemiten tun«

Der Bundestagsabgeordnete Johannes Volkmann (CDU) über den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland, die zögerliche Reaktion der Politik und Abschiebungen als Gefahrenabwehr

von Joshua Schultheis  13.11.2025

Berlin

Wegner setzt im Fördermittelstreit auf Aufklärung

»Es sind Vorwürfe im Raum, die muss man sich genau anschauen. Und dann werden wir gegebenenfalls, wenn es notwendig ist, die richtigen Konsequenzen ziehen«, betont der Regierende Bürgermeister

 12.11.2025

Deutschland

Waffen für Anschläge besorgt: Weiteres Hamas-Mitglied festgenommen

Der Mann soll ein Sturmgewehr, mehrere Pistolen und Munition für Anschläge auf jüdische und israelische Einrichtungen besorgt haben

 12.11.2025

Justiz

Anklage wegen Hausverbots für Juden in Flensburg erhoben

Ein Ladeninhaber in Flensburg soll mit einem Aushang zum Hass gegen jüdische Menschen aufgestachelt haben. Ein Schild in seinem Schaufenster enthielt den Satz »Juden haben hier Hausverbot«

 12.11.2025

Einmischung

Trump fordert Begnadigung Netanjahus

Israels Regierungschef Netanjahu steht wegen Betrugs, Bestechung und anderer Vorwürfe vor Gericht. Israels Präsident müsse ihn begnadigen, forderte nun US-Präsident Trump - damit er das Land vereinen könne

 12.11.2025

Sabine Brandes

Wie Donald Trump Israels Demokratie angreift

Der US-Präsident hat angekündigt, in den Korruptionsprozess gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu eingreifen zu wollen. Damit geht der Amerikaner eindeutig zu weit

von Sabine Brandes  12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025

Hessen

Margot Friedländer erhält posthum die Wilhelm-Leuschner-Medaille

Die Zeitzeugin Margot Friedländer erhält posthum die höchste Auszeichnung des Landes Hessen. Sie war eine der wichtigsten Stimme in der deutschen Erinnerungskultur

 12.11.2025

Berlin

Verhandlung über Waffenlieferungen an Israel

Insgesamt sechs Kläger wollen vor dem Berliner Verwaltungsgericht in zwei Fällen feststellen lassen, dass der Export deutscher Rüstungsgüter an Israel rechtswidrig war. Eine Entscheidung wird noch für Mittwoch erwartet

 12.11.2025