Genau ein Jahr ist es jetzt nun her, dass der israelische Gastronom Yorai Feinberg vor seinem Restaurant in Berlin-Schöneberg minutenlang einen Schwall wüster antisemitischer Beleidigungen über sich ergehen lassen musste. »Das war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass mir so etwas passierte«, erinnert er sich heute. »Aber damals haben wir das alles mit der Smartphone-Kamera dokumentiert.«
Das Video, das einen älteren Deutschen zeigt, der seinen Judenhass ungehemmt freien Lauf lässt, verbreitete sich rasend schnell im Internet. Feinberg selbst erfuhr daraufhin eine Welle der Solidarität. »Da hatte ich begriffen, wie wichtig es ist, derartige Vorfälle zu dokumentieren und sie so aus der Anonymität zu holen.«
»Jeder Antisemit in diesem Land hat immer auch ein Problem mit der Demokratie«, betont Zentralratsgeschäftsführer Daniel Botmann.
ÖFFENTLICHKEIT Deshalb ist sein Restaurant zweifelsohne der richtige Ort, um der Öffentlichkeit die Arbeit des neu gegründeten Bundesverbandes RIAS e.V. vorzustellen, der aus der gleichnamigen Recherche- und Informationsstelle in Berlin hervorgegangen ist.
Denn Gründe für eine derartige bundesweite Meldestelle für antisemitische Vorfälle gibt es nicht erst seit den zahlreichen judenfeindlichen Vorkommnissen und Straftaten der vergangenen Monate, die medial viel Aufmerksamkeit erzeugt hatten.
»Wir reden von 3378 Vorfällen allein für Berlin, seit wir Anfang 2015 mit unserer Arbeit begannen«, bringt Benjamin Steinitz die Dimensionen des Themas auf den Punkt. »Oder anders ausgedrückt: Pro Tag sind es im Durchschnitt zwei bis drei Vorfälle. Deshalb wird von Berlin auch häufig als der Hauptstadt des Antisemitismus gesprochen.«
VORFÄLLE Aus anderen Teilen Deutschlands wurden im selben Zeitraum 797 Vorfälle registriert. Das Selbstverständnis von RIAS Berlin war es dabei immer, Ansprechpartner für Betroffene zu sein und sie dazu zu ermutigen, entsprechende Ereignisse zu melden. Auch will man ihnen die Schwellenangst vor den Ermittlungsbehörden nehmen. »Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht und viel Vertrauen aufgebaut.« Deshalb soll dieses System nun sukzessive auf ganz Deutschland ausgeweitet werden.
Die Erfassung der Vorfälle soll sich an der Definition von Antisemitismus der Internationalen Allianz für Holocaustgedenken orientieren. Danach geht es um Worte oder Taten, die sich aus Hass gegen Juden speisen und sich auch gegen Personen und Institutionen richten können sowie gegen den Staat Israel. »Wir wollen mehr Licht in das Feld der Dunkelziffer aller antisemitischer Angriffe bringen«, sagt Steinitz.
»Wir reden von 3378 Vorfällen allein für Berlin«, sagt RIAS-Projektleiter Benjamin Steinitz.
Rückendeckung erhält RIAS zum einen aus der Politik. »85 Prozent der Juden in Deutschland nehmen Antisemitismus als ein wachsendes Problem wahr«, skizziert Felix Klein die Situation. »Aber 80 Prozent der nichtjüdischen Deutschen halten das Thema irgendwie für wichtig«, so der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, der jetzt auch Schirmherr von RIAS ist.
POLIZEI Hinzu kommt die Tatsache, dass manche bei der Meldung eines Vorfalls mit der Polizei schlechte Erfahrungen machten. Die nunmehr bundesweit aktive Meldestelle, die sich zugleich als Schnittstelle zivilgesellschaftlicher jüdischer und nichtjüdischer Organisationen versteht, soll helfen, das wahre Ausmaß des Antisemitismus besser zu erkennen, um dann auch gezielter gegen das Phänomen vorgehen zu können. »Jüdische Perspektiven und Erfahrungswerte sind uns dabei sehr wichtig«, so Klein. Auch darin kommt RIAS eine Schlüsselrolle zu.
Zum anderen ist gleichfalls der Zentralrat der Juden in Deutschland mit an Bord. Sein Geschäftsführer Daniel Botmann ist zugleich im RIAS-Vorstand vertreten. Botmann betont, eine bundesweite Erfassung sei nötig, da die Polizeistatistik in der Regel nur strafrechtlich belangbare Taten erfasse. Ein Großteil der Vorfälle sei aber nicht strafbar. »Das ist der alltägliche Antisemitismus«, hebt Botmann hervor.
»In Berlin hat die Arbeit der Meldestelle beträchtlich dazubeigetragen, das wahre Ausmaß des Antisemitismus sichtbarer zu machen«, so der Geschäftsführer des Zentralrats weiter. »Von den von RIAS Berlin erarbeiteten Qualitätsstandards können Meldestellen in anderen Bundesländern enorm profitieren. Nicht zuletzt für die Betroffenen von Antisemitismus ist dies ein wichtiger Schritt. Ich hoffe, dass Betroffene von Antisemitismus außerhalb Berlins dieses neue Meldeangebot annehmen und ihre Erfahrungen berichten.«
TATSACHE »Jeder Antisemit in diesem Land hat immer auch ein Problem mit der Demokratie und dem Rechtsstaat«, betont Botmann und verweist damit auf die Tatsache, dass der Judenhass keine Angelegenheit der jüdischen Gemeinschaft alleine ist, sondern jeden in Deutschland angehen sollte.
Umso wichtiger ist daher für den Geschäftsführer des Zentralrats der Juden die Synchronisation der Akteure im Kampf gegen den Antisemitismus. So wie im Falle der Arbeit von RIAS. »Wir sind in einer Zeit, in der wir große Unterstützung seitens der Politik erfahren.« Das mache Mut.