Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat im vergangenen Jahr in Yad Vashem eine Rede gehalten, die seine Amtszeit wohl ähnlich prägen wird, wie jene Willy Brandts vom Warschauer Kniefall geprägt wurde. Dieser Rede hat er durch persönliche Entscheidungen besondere Glaubwürdigkeit verliehen: Obschon Steinmeier ein Jahrzehnt nach Kriegsende geboren wurde, ist er doch seit langer Zeit der erste Bundespräsident, der sich aktiv mit nationalsozialistischen Verbrechen auseinandersetzen musste – und es auch tat.
Nachdem er 2017 gewählt worden war, erhielt er Kenntnis von einem schon drei Jahre währenden Einsatz für eine Gedenktafel, die auf das Schicksal von Hugo Heymann hinweisen soll. Der an Gestapo-Misshandlungen verstorbene jüdische Fabrikant war der Voreigentümer der Dienstvilla des Bundespräsidenten.
WENDEPUNKT Steinmeier entschied, die Villa so lange nicht zu beziehen, bis den Hinweisen auf Heymann nachgegangen würde und Einigung über historisches Gedenken bestehe. Im Sommer 2018 enthüllte er dann eine Gedenkstele vor seiner Dienstvilla und setzte sich über die Zeremonie hinaus mit der Entrechtung von Hugo Heymann auseinander.
Anschließend wurde im Bundespräsidialamt ein neues Referat »Historische Grundsatzfragen, Erinnern und Gedenken« geschaffen, das dem Abteilungsleiter Inland untersteht. Ein wichtiger Schritt, gerade mit Blick auf die seit 1949 zentrale Bedeutung der Bundespräsidenten im Bereich Erinnern und Gedenken.
Doch nun, sechs Jahre, nachdem das Bundespräsidialamt erstmals mit dem Schicksal von Hugo Heymann und seiner Frau Maria konfrontiert wurde, gibt es einen neuen Wendepunkt. Nachdem das Amt jüngst eine Publikation über Hugo Heymann und die Geschichte seiner Villa verantwortete und ein Aufsatz zu diesem Thema in einem wissenschaftlichen Werk erschien, blieb doch eine Lücke. Es gab keine Abbildungen von Hugo Heymann, kein Gesicht zum Schicksal. Die zuständigen Beamten des Bundespräsidialamtes hatten jedoch seit 2017 nicht aufgehört zu recherchieren.
RECHERCHE Es ist ihnen nun gelungen, im Nachlass von Heymanns kürzlich verstorbenem Erben Peter Kaps Dokumente zu Hugo Heymann zu finden – Dokumente, die berühren. Denn endlich liegt ein Foto vor. Es zeigt den 1881 geborenen Heymann in Uniform. Wie jeder gesunde deutsche Mann hatte er Militärdienst für sein Vaterland geleistet.
Zu den Funden gehört auch eine Urkunde. Sie illustriert in wenigen Zeilen das Wesen des nationalsozialistischen Regimes zwischen Pedanterie und Rassenwahn: Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte am 13. Juli 1934 ein Ehrenkreuz für Kriegsteilnehmer gestiftet. Es wurde in drei Ausfertigungen verliehen: an Hinterbliebene, kriegsteilnehmende Soldaten und Frontkämpfer.
Nach dessen Tod am 2. August 1934 vereinigte Adolf Hitler die Ämter von Reichspräsident und Reichskanzler zu »Führer und Reichskanzler«. Fortan wurde die Auszeichnung »Im Namen des Führers und Reichskanzlers« verliehen. Allerdings geschah dies nur auf Antrag.
»Die Bilder geben dem jüdischen Vorbesitzer endlich ein Gesicht.« Frank-Walter Steinmeier
Anfang 1933 hatte Hugo Heymann seine Villa unter dem Druck drohender Verfolgung nach entsprechenden Emigrationsvorbereitungen weit unter Wert verkauft und wollte das Land verlassen. Während das Regime ihn immer weiter ausplünderte, muss er binnen der Frist bis März 1935 einen Antrag auf Verleihung des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer gestellt haben.
Das Regime lehnte zwar etwa die Verleihung an afrikanischstämmige Weltkriegsteilnehmer ab, an Juden jedoch erfolgten zahlreiche Verleihungen. Diese erhofften sich Schutz durch ein sichtbares Zeichen ihres patriotischen Einsatzes. Mit Datum vom 20. März 1936 wurde dem verfolgten jüdischen Kaufmann Hugo Heymann im Namen Adolf Hitlers das Ehrenkreuz für Kriegsteilnehmer verliehen.
PERLEN Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich erfreut über die gefundenen Unterlagen, die einen weiteren Teil des Lebens von Hugo Heymann aus dem Dunkel des Vergessens holen: »Das ist ein großartiger Fund, der die Aufarbeitung der Geschichte der Dienstvilla enorm bereichert. Die Bilder geben vor allem dem jüdischen Vorbesitzer endlich ein Gesicht. Dafür bin ich sehr dankbar.«
Der Weltkriegsteilnehmer Hugo Heymann wurde mit Fleiß und Geschäftssinn vermögend. Er stellte künstliche Perlen her, eine günstige Alternative zu kostspieligen echten Perlen, besonders nach den wirtschaftlichen Einbrüchen infolge der Weltwirtschaftskrise. Anfang der 30er-Jahre entwickelte er sein Produkt zur Beschichtung von Fahrzeugausstattungen weiter, bevor die Nationalsozialisten ihm sein Lebenswerk nahmen.
Unzählige nichtjüdische Deutsche profitierten ab 1933 von der Ausplünderung und Ermordung der deutschen Juden und ab 1939 von der Ausplünderung und Ermordung von Juden in zahlreichen besetzten Ländern. Dazu gehörte auch Serbien. Ungeniert reichte Manfred Klaiber, einer der Diplomaten beim Deutschen Militärbefehlshaber in Serbien, eine Dienstreiseabrechnung ein. Als Reisegrund gab er »Liquidation von Juden in Belgrad« an. Klaiber war nach dem Krieg, ab 1949, der erste Chef des Bundespräsidialamtes.
Nachdem Hinweise auf eine mögliche Beteiligung Klaibers und anderer hoher Beamter an Kriegsverbrechen vorlagen, schrieb das Bundespräsidialamt Ende 2019 einen Forschungsauftrag aus.
Nachdem es bis zum Amtsantritt von Bundespräsident Steinmeier Jahre gedauert hatte, bis das Bundespräsidialamt den Hinweisen auf die Vorgeschichte der Dienstvilla nachging, reagiert es heute erheblich rascher und sensibler. Nachdem Hinweise auf eine mögliche Beteiligung Klaibers und anderer hoher Beamter an Kriegsverbrechen vorlagen, schrieb das Bundespräsidialamt Ende 2019 einen Forschungsauftrag aus.
HISTORIKER Jüngst wurde bekannt, dass Norbert Frei (65) diesen Auftrag erhielt. Der Historiker hat den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena inne. Er gilt als einer der profiliertesten Kenner des NS-Regimes im deutschsprachigen Raum. Zudem wird er von anderen Historikern als prädestiniert für diese Aufgabe beschrieben – wegen seiner profunden Archivarbeitsweise, einem sehr kollegialen Arbeitsstil und seinem regelmäßigen Austausch mit spezialisierten Forschern.
Gerade mit Blick auf die große Bandbreite der Aufgabenstellung ist dies ein wichtiger Punkt. Denn neben der Überprüfung der Vergangenheit der Beamten des Bundespräsidialamts vor 1945 wird auch die Praxis der Ordensverleihungen hinterfragt werden müssen. Schließlich waren sogar in den Nürnberger Prozessen verurteilte Kriegsverbrecher mit hohen Stufen des Bundesverdienstkreuzes geehrt worden.
PERSONALAKTEN Norbert Frei wird in diesem Zusammenhang untersuchen, unter welchen Umständen in den 60er-Jahren die vor einer Ordensverleihung obligatorischen Regelanfragen beim Berlin Document Center (BDC) eingeführt wurden. Möglicherweise waren die von Fritz Bauer initiierten Auschwitz-Prozesse der Auslöser, vor einer Verleihung zu prüfen, ob und welche Personalakten von vor 1945 über den für eine Ehrung Vorgesehenen vorliegen.
Die Studie, die zum Ende der gegenwärtigen Amtszeit Steinmeiers 2022 vorliegen soll, wird auch für Nichthistoriker lesenswert werden.
Norbert Frei hat sich in seinem Berufsleben als Historiker seit seiner Promotion und Habilitation immer wieder sowohl mit dem NS-Regime als auch mit dem Umgang der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit dessen Nachwirkungen befasst. Das mag ein Auswahlkriterium des Bundespräsidialamts gewesen sein.
Es wurde vonseiten des Amtes betont, dass Norbert Frei und sein Team völlig unabhängig in Art und Ausrichtung ihrer Forschungen sein werden. Da Frei auch ausgebildeter Journalist ist, der regelmäßig für ein breites Publikum in Zeitungen schreibt, dürfte die Studie, die zum Ende der gegenwärtigen Amtszeit Steinmeiers 2022 vorliegen soll, auch für Nichthistoriker lesenswert werden.
Das Schicksal von Hugo Heymann zeigt, wie notwendig es ist, die Folgen des Versagens der Demokratie in der Vergangenheit zu dokumentieren, um für die Zukunft wachsam zu bleiben.