Die vergangenen Monate waren eine schwere Prüfung für Israel. Nicht nur für den Staat, sondern für die gesamte Gesellschaft. Es ist wie bei einem Vulkan, der lange gebrodelt hat, um nun auszubrechen. Als jemand, der lange in Russland gelebt hat, weiß ich, was passiert, wenn ein Land die Demokratie verliert und ins Autoritäre kippt. Umso ermutigender ist es zu sehen, wie in diesen Tagen in Israel die Demokratie lebt und funktioniert, Israels Bürger politische Alleingänge nicht einfach hinnehmen, sondern offen auf der Straße lautstark ihre Meinung äußern.
Dabei sind die Veränderungen innerhalb der israelischen Gesellschaft seit Langem für jedermann sichtbar. War Israel anfangs das Projekt einer Gruppe linker Atheisten, hat es 75 Jahre nach Staatsgründung sein Gesicht dramatisch verändert. Die Säkularen, die drei Generationen lang die Mehrheit bildeten, sind zur Minderheit geworden.
modus operandi Eine Mehrheit der Israelis lebt heute religiös oder traditionell und steht politisch viel weiter rechts als noch vor einigen Jahrzehnten. Dass diese Entwicklung irgendwann politische Folgen haben würde, war vielen – auch in der Diaspora – lange Zeit nicht bewusst. Was wir jetzt erleben, ist ein nachgeholter Wandel des politischen Modus Operandi, der sich in Wahrheit aus dieser Wirklichkeit ergibt.
Die Veränderungen innerhalb der israelischen Gesellschaft sind seit Langem für jedermann sichtbar.
Israels Oberstes Gericht ist heute im Prinzip viel liberaler als die Bevölkerung oder die Mehrheit in der Knesset. Der aktuelle Streit dreht sich auch darum, inwieweit die obersten Richter die heutigen Gegebenheiten einer zunehmend konservativen und religiöser werdenden Bevölkerung noch abbilden.
Waren es einst eher die religiösen und politisch rechten Kräfte, die auf die Straße gingen und politische Veränderungen einforderten, sind es heute die Laizisten. Deren Aktivismus war ziemlich effektiv, er hat die von der rechten Seite propagierte Reform des politischen Systems und der Justiz im Wesentlichen verhindert. Vorläufig zumindest.
für und wider In den Jahren nach der Staatsgründung prägte Israel das Ringen zwischen Sozialismus und mehr Staat einerseits und mehr Kapitalismus und weniger Staat andererseits. Nach dem Sechstagekrieg von 1967 ging es vorwiegend um das Für und Wider von »Land gegen Frieden« und um die Frage, ob ein Ausgleich mit den arabischen Nachbarn möglich ist. In jüngster Zeit dominiert die Frage, ob man religiös oder säkular ist.
Achtsamkeit und Rücksichtnahme sind das Gebot der Stunde.
Durch die Ereignisse der vergangenen Wochen ist viel Vertrauen verspielt worden. Jetzt wird es vor allem für die Regierung darauf ankommen, sicherzustellen, dass jeder – egal, ob religiös oder säkular – sich in Israel zu Hause fühlen kann und einen Platz in der Gesellschaft hat. Dieser Herausforderung muss sich jede Regierung, egal welcher Couleur, stellen.
Trotz des Lärms und trotz des Dramas, das sich momentan in Israel abspielt, ist es für Optimisten nach wie vor möglich, den Silberstreif am Horizont zu erkennen. Israel hält seine großen inneren Spannungen seit 75 Jahren aus, Israel ist eine starke Demokratie. Das Land wird nicht, wie manch andere Staaten in Nahost, in einem Bürgerkrieg versinken.
diaspora Spannender wird sein, welche Schatten die dortigen Verwerfungen auf die Diaspora werfen. Schon jetzt sind die Auswirkungen deutlich spürbar. Wir erleben, wie Juden in aller Welt für Vorgänge in Israel in Mithaftung genommen und wie Menschen gezwungen werden, für die eine oder andere Seite Position zu beziehen. Es ist zwar nichts Neues, dass Geschehnisse in Israel Auswirkungen auch auf Juden haben, die dort gar nicht leben.
Dessen waren sich verantwortliche israelische Politiker in der Vergangenheit immer bewusst. Aber heute beschleicht einen des Öfteren das Gefühl, dass die Handelnden nur noch Innenpolitik betreiben und im Eifer des Gefechts nicht mehr wahrnehmen, was anderswo geschieht.
Auch deswegen, und nicht nur wegen der Fragmentierung der israelischen Gesellschaft, sollten alle Seiten darauf achten, die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Ermutigend waren Bilder aus Bnei Brak vergangene Woche, auf denen orthodoxe Juden zu sehen sind, wie sie Demonstranten gegen die geplante Justizreform mit Essen und Süßigkeiten bewirteten. Auch das ist Israel.
Der Staat Israel ist die Verwirklichung eines 2000 Jahre alten Traums des jüdischen Volkes.
Der Staat Israel ist die Verwirklichung eines 2000 Jahre alten Traums des jüdischen Volkes. Für seine Verwirklichung mussten Unzählige ihr Leben lassen. Ein jüdischer Staat kann nur ein pluralistischer, ein demokratischer sein, alles andere würde gar nicht zu diesem Volk passen. Aber: Alle Protagonisten sollten jetzt vom Abgrund zurückzutreten und nach tragfähigen Lösungen suchen – auf der gemeinsamen Basis von Gerechtigkeit und Verantwortung.
Achtsamkeit und Rücksichtnahme, auch gegenüber den Juden in der Diaspora, sind das Gebot der Stunde. Die Maxime des Talmuds, dass alle Juden füreinander verantwortlich sind, gerät leider immer wieder in Vergessenheit. Verantwortung ist keine Einbahnstraße. Juden in aller Welt fühlen sich verantwortlich für Israel. Das wird auch künftig so sein. Umgekehrt wünschen wir unseren Brüdern und Schwestern in Israel, dass sie Verantwortung für die Diaspora übernehmen. Und ich bin mir sicher: Wer politisch maßvoll agiert, wird schlussendlich erfolgreicher sein als der, der mit der Brechstange vorgeht.
Der Autor ist Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz und war lange Jahre Oberrabbiner von Moskau.