Geschichte

Aufgabe für die Zukunft

In der »Halle der Namen« in der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Foto: Flash90

Das Jahr 2021 ist vorüber. Überall in Deutschland fanden und finden Veranstaltungen im Rahmen des Gedenk- und Feierjahres »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« statt, in dem die Zivilgesellschaft und die demokratischen Institutionen an den Holocaust, an den Versuch des nationalsozialistischen Unrechtsstaates, das jüdische Volk auszurotten, erinnern.

Überall in Deutschland haben bisher mehr als 2000 bedeutsame Veranstaltungen stattgefunden. Nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch wegen der großen Resonanz haben wir mit Zustimmung der Bundesregierung beschlossen, dieses Festjahr bis Mitte 2022 zu verlängern.

Antisemiten Wir, das waren ursprünglich drei Menschen, die sich nicht damit abfinden wollten, dass 75 Jahre nach der Befreiung unseres Landes von der Nazidiktatur wieder offen agierende Antisemiten in unseren Parlamenten sitzen. Wir wollten helfen, dass unsere jüdischen Mitbürger in ihrem Land, ihrer Heimat so leben können, wie es von unserem staatlichen Selbstverständnis und von unserem Grundgesetz garantiert wird.

Wir, das waren zusammen mit mir der evangelische Pfarrer Matthias Schreiber und der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer.

Am 7. Dezember 2015 hatte ich auf einem Festakt aus Anlass der Gründung des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein vor 70 Jahren im Landtag von Nordrhein-Westfalen die Festrede gehalten. Sie haben richtig gelesen. Schon sechs Monate nach der Befreiung Deutschlands von den Nazis wurden schon wieder jüdische Gemeinden im späteren Nordrhein-Westfalen gegründet. Als ich davon hörte, war ich sprachlos.

Gründer Die Gründer der neuen Bundesrepublik wussten um das unermessliche Leid, das im deutschen Namen nicht nur unseren Nachbarn zugefügt worden war. Zwischen 1939 und 1945 wurde ein Sechstel der polnischen und ein Fünftel der ukrainischen Bevölkerung getötet. Nach Schätzungen sind rund 20 Millionen Einwohner der Sowjetunion getötet worden. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs töteten Deutsche und Kollaborateure sechs Millionen Juden und sechs bis acht Millionen Nicht-Soldaten und andere Kämpfende.

Der erste SPD-Vorsitzende nach dem Krieg, Kurt Schumacher, hatte fast zehn Jahre in Zuchthäusern und Konzentrationslagern gelitten; er hat sich trotz aller Schmerzen und Erniedrigungen nicht gebeugt.

Auch Konrad Adenauer, der Gründungskanzler der Bundesrepublik, war ein Verfolgter des NS-Regimes. In den Folterzellen des Gestapo-Gefängnisses der Abtei Brauweiler hat er Tod, Folter und viel Leid erlebt. Übrigens: In der Abtei Brauweiler war von 1933 bis 1934 eines der ersten Konzentrationslager errichtet worden. Später gab es mehr als 40.000 Lager überall in Deutschland.

Bis heute ist es uns noch nicht gelungen, das Menschheitsverbrechen aufzuarbeiten.

Für Adenauer war klar, dass die neue Bundesrepublik ein »Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Unrechtsstaat« sein musste. Er wollte eine Demokratie nach westlichem Muster. Und er wusste, dass man eine »Demokratie leben« musste. Für ihn war auch von Anfang an klar, dass die Aussöhnung mit dem Staat Israel und die Überwindung der deutsch-französischen Erbfeindschaft zur Staatsräson des neuen Staates gehören musste.

nazidiktatur Am 27. September 1951 gab Konrad Adenauer eine historische feierliche Erklärung im Bundestag ab. Zuvor hatten die Abgeordneten sich von ihren Plätzen erhoben und ihre Anteilnahme mit den Opfern der Nazidiktatur zum Ausdruck gebracht.

In der Kontinuität stehen wir auch heute. Deshalb wollten wir ein Zeichen setzen, ein Zeichen gegen den Antisemitismus und für unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland und in Europa.

Als ich im Landtag in Düsseldorf vorschlug, im Jahre 2021 ein solches Gedenk- und Feierjahr zu organisieren, wussten wir nicht, was uns erwartete. Es gab aber einen konkreten Anlass. Im Jahre 321, also vor genau 1700 Jahren, hatte der römische Kaiser Konstantin durch einen Erlass sichergestellt, dass jüdische Mitbürger in den Stadtrat berufen werden konnten.

Wir wollten überall in Deutschland und zusammen mit unseren Freunden in Israel, in New York, in Polen und anderswo über jüdisches Leben sprechen.

Wir wollten auch zeigen, dass wir unseren jüdischen Mitbürgern viel zu verdanken haben. Heute leben in Deutschland rund 200.000 jüdische Mitbürger. 100.000 von ihnen sind Mitglieder der jüdischen Gemeinden. In den ersten Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges sind viele von ihnen aus Russland zu uns gekommen. Ich hatte das Glück, mit Paul Spiegel sel. A., dem damaligen Vorsitzenden der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland (ZWST), bei der Integration in ihre neue Heimat zu helfen.

Martin Buber nannte die Schoa eine »Wunde in der Ordnung des Seins«, die »auf ewig bleibt«. Es gibt immer noch Antisemiten und rechtsextreme Gewalttaten.

vergangenheit In den 60er-Jahren haben wir zwar die Aufarbeitung der Vergangenheit intensiviert. Viele junge Menschen wollten wissen, was die Väter und Mütter in der NS-Zeit getan haben. Es gelang sogar, aus der Vergangenheitsbewältigung durch die öffentlichen Institutionen eine Erinnerungskultur zu prägen.

Der Begriff Erinnerungskultur entstand in den 90er-Jahren. Wir wissen inzwischen auch, dass die Überlebenden des Holocaust nicht mehr lange als Zeitzeugen authentisch von dem Furchtbaren, was damals geschah, Zeugnis geben können. Bis heute ist es uns noch immer nicht gelungen, das Menschheitsverbrechen aufzuarbeiten.

Es gibt zwar Versuche, neue Wege des Erinnerns zu gehen. Das ist grundsätzlich richtig. Manche glauben, die Darstellung des Grausamen sei den Jugendlichen nicht zuzumuten, weil sie zu Traumatisierungen führe. Die Erinnerungskultur müsse »in Richtung Zukunft neu justiert werden«. Dem kann und will ich nicht zustimmen, weil solche Veränderungen zu einer Relativierung des Erinnerns führen. Das Verbrechen des Holocaust ist in der Geschichte der Menschen einzigartig.

ideologie Es kann allerdings kein Monopol des Erinnerns geben. Keine politische Ideologie, keine Religion, keine linke oder rechte Theorie sind in der Lage, einem Volk eine demokratische Erinnerungskultur zu sein. Die Rechtspopulisten und Nationalisten versuchen, ein nationales Selbstbild zu entwerfen, das jeder Selbstkritik im Wege steht.

Die linke Sicht der Erinnerung fordert die Entrümpelung der Erinnerungskultur. Sie stören die »erfolgreiche Verbreitung und Institutionalisierung« des Gedenkens. Sie beklagen, dass die Menschenrechte nicht überall in Europa gelten. Sie verstehen nicht, dass die Grundlage Europas die Menschenrechte sind. Wir Deutsche wissen, dass die Menschen- und Bürgerrechte nicht verhandelbar sind.

Das Wissen um die Einzigartigkeit des Verbrechens, der Schoa, meint das Begreifen der Schuld des deutschen Volkes, die Annahme und Anerkennung dieser Schuld, die Vollendung der europäischen Einheit als Lehre aus der Geschichte. Wir Heutigen tragen nicht die Verantwortung für die Schuld, wir tragen aber die Verantwortung für die Erinnerung.

Wir wissen, dass Erinnerung nichts Statisches ist, auch nicht die Erinnerungskultur.

Wir wissen, dass Erinnerung nichts Statisches ist, auch nicht die Erinnerungskultur. Sie ist einem steten Wandel ausgesetzt. Jede Generation muss deshalb ihre eigene Form der Erinnerung entwickeln, um derjenigen willen, an die es zu erinnern gilt, und um unserer selbst willen. Denn es gibt keine Freiheit ohne Erinnerung. Freiheit ist nur durch die Hoffnung auf Freiheit möglich.

Was folgt daraus? Wir haben es bisher nicht geschafft, dass der Hass und die Menschenverachtung, die uns aus den sozialen Netzwerken entgegenschreien, gestoppt werden. In Deutschland gibt es trotz vieler Gedenkstätten kein Holocaustmuseum, das ähnlich wie Yad Vashem in Israel neue Formen der Erinnerung entwickelt. Auch in Europa gibt es kein Holocaustmuseum.

gedächtnis Wir müssen uns stärker mit Gegenwart und Zukunft unserer Nation und Europas befassen. Wir müssen uns mehr mit der Geschichte unserer Nachbarn und der gemeinsamen Geschichte im vereinten Europa befassen. Aleida Assmann sagt dazu: »Das nationale Gedächtnis existiert im heutigen Europa aber keineswegs mehr in Isolation, sondern ist untrennbar mit anderen nationalen Gedächtnissen verbunden.«

Auch der Kampf gegen den neuen Faschismus, gegen die Ausländerfeindlichkeit und gegen die Diffamierung Israels und der Einsatz für das vereinte Europa gehören für mich zur Erinnerungskultur. Wir wissen, dass es immer schwerer wird, glaubhaft zu erinnern. Viele wollen deshalb die Erinnerung erweitern, zum Beispiel auf die Demokratie, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter Konrad Adenauer gegründet und aufgebaut wurde. Andere wiederum glauben, dass »die Verbrechen der Nationalsozialisten und damit auch des Holocaust keinesfalls präzedenzlos, sondern im europäischen Kolonialismus vorweggenommen« seien.

Auch besteht der Vorwurf, nach der Wiedervereinigung sei der »Antifaschismus der DDR« ausgeblendet worden. Susan Neiman sagt deshalb: »Ostdeutsche haben [eine] vollkommen andere Wahrnehmung.«

Die Erinnerungskultur ist nicht beendet. Jede Generation muss ihren eigenen Beitrag leisten.

Zur Frage der Singularität des Holocaust gibt es eine lang dauernde Diskussion, sowohl im Kontext der Erinnerungskultur, des Antikolonialismus, des Postkolonialismus und der Identitäten.

In den 80er-Jahren begann auch in den jüdischen Gemeinden eine Debatte über die Erinnerungskultur. Zu den Nachwirkungen der traumatischen Erfahrungen, denen die Vorfahren ausgesetzt waren, treten zunehmend Perspektiven, die eine eigene jüdische Haltung und Widerstand gegenüber der Mehrheitsmeinung in Deutschland zeigen.

Die Erinnerungskultur ist also nicht beendet. Jede Generation muss ihren eigenen Beitrag leisten. In unserem Land, in Deutschland, dem Land der Täter, in dem viele Opfer noch nicht benannt, Täter noch unbekannt und die Orte, wo das Unfassbare geschah, schon vergessen sind, bleibt das Erinnern eine Zukunftsaufgabe, um der Opfer willen, aber auch um unserer eigenen Zukunft willen.

Der Autor ist Vorsitzender des Kuratoriums des Vereins »321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«, er war Bundesbildungsminister und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.

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