Seit rund zwei Jahren ist Felix Klein Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus. Äußerungen von ihm beispielsweise über den Kameruner Historiker Achille Mbembe haben in diesem Jahr eine neue Debatte über die Grenze zwischen »Israelkritik« und Antisemitismus ausgelöst. Im Interview mit dieser Zeitung erklärt er nun, warum er so klar Stellung bezogen hat, was im Kampf gegen Judenhass noch fehlt und wie er auf den Jahrestag des antisemitischen Anschlags in Halle blickt.
Herr Klein, in den vergangenen Monaten hat sich eine heftige Debatte um das Thema Antisemitismus entzündet. Es geht um die Definition, um Israelkritik und die Frage, was sagbar ist. Was ist da nach Ihrem Eindruck passiert?
Unterschiedliche Auffassungen sind offen zutage getreten, die bisher nicht diskutiert wurden. Im Zentrum steht die Frage, wo die Trennlinie zwischen zulässiger Kritik an Israel und israelbezogenem Antisemitismus verläuft. Die Heftigkeit der Debatte hat mich überrascht. Das zeigt aber, dass sie notwendig ist. Ich will sie gern führen, denn alle Stimmen, die sich beteiligt haben, wollen eine Welt ohne Antisemitismus und Rassismus.
Die Vorwürfe richteten sich auch gegen Sie selbst. In einem offenen Brief an Kanzlerin Angela Merkel (CDU) haben Ihnen namhafte deutsche und israelische Wissenschaftler und Publizisten vorgeworfen, den Begriff Antisemitismus inflationär zu gebrauchen. Was entgegnen Sie?
Ich weise das zurück. Es gibt keine harmlose Form von Antisemitismus. Der Antisemitismus, über den jetzt gestritten wird, ist in der Mitte der Gesellschaft anschlussfähig: Es geht um den Israel-bezogenen Judenhass. Wir sind uns einig beim Kampf gegen Antisemitismus von Rechtsextremen. Aber auch den Antisemitismus in der gesellschaftlichen Mitte müssen wir klar benennen und dagegen angehen.
Für Wirbel sorgte vor allem Ihre Kritik am Kameruner Historiker Achille Mbembe. War es richtig, ihn von der Ruhrtriennale auszuladen?
Es ging um die Eröffnungsrede eines Kulturfestivals, das aus öffentlichen Geldern finanziert wird. Da stelle ich mir die Frage: Müssen wir jemanden einladen, auf Staatskosten einfliegen und dann israelfeindliche Thesen verbreiten lassen? Ich hätte nicht so argumentiert, wenn es eine private Veranstaltung gewesen wäre.
Einer Ihrer Kritiker, Michael Brumlik, hat gesagt, Antisemitismus ist einer der schwersten Vorwürfe, die man in Deutschland überhaupt machen kann. Wie lange überlegen Sie, bevor sie eine Aussage, eine Person als antisemitisch bezeichnen?
Um es noch mal deutlich zu sagen: Ich habe Herrn Mbembe nicht als Antisemiten bezeichnet, sondern habe Textpassagen aus seinem Werk kritisiert, die problematisch sind, weil er damit antisemitische Klischees bedient. Bevor ich so etwas mache, überlege ich mir das sehr gut. Aber gerade vor dem Hintergrund unserer geschichtlichen Erfahrung ist es wichtig, dass wir in Deutschland besonders wachsam sind.
Wenn wir auf die inzwischen auf Eis gelegten Annexionspläne Israels im Westjordanland blicken: Wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Israelkritik und Antisemitismus?
Völkerrechtswidriges Verhalten kann natürlich kritisiert werden. Die Grenze zu legitimer Kritik ist aber überschritten, wenn der Holocaust relativiert wird, indem beispielsweise Gaza als Konzentrationslager bezeichnet wird, oder wenn Israel als Täter- oder Apartheidsstaat bezeichnet wird. Solche Vergleiche sind unzulässig, weil sie Israel delegitimieren. Zulässig wäre hingegen zu sagen, Israel befinde sich auf dem Weg in apartheidsähnliche Zustände.
Auch deutsche Juden werden regelmäßig mit dem Nahost-Konflikt konfrontiert. In welcher Zwickmühle ist die jüdische Gemeinschaft?
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist sehr heterogen. Es gibt viele Kritiker der derzeitigen israelischen Regierung, auch viele Befürworter. Nach dem, was ich wahrnehme, ist es aber für alle extrem belastend, sich immer wieder rechtfertigen zu müssen, egal, wie sie zum Nahost-Konflikt stehen. Die Gleichsetzung von Juden und Israel müssen wir aufbrechen. Es geht um deutsche Staatsbürger. Auf der anderen Seite ist aber auch klar, dass für alle Juden auf der ganzen Welt Israel eine besondere Rolle hat. Für viele ist Israel die Lebensversicherung. Ich sehe es daher auch als meine Aufgabe an, das Verständnis für dieses besondere Verhältnis zu stärken.
Israelfeindlichkeit gibt es auch bei muslimischen Zuwanderern aus arabischen Ländern. Müssen Tabus der Deutschen auch für Zuwanderer gelten?
Ich spreche lieber von roten Linien. Die gelten für unsere Gesellschaft als Ganzes und damit auch für Zuwanderer. Es ist eine wichtige Aufgabe unserer Integrationspolitik klarzumachen, dass Antisemitismus in Deutschland in keiner Form akzeptiert wird. Das gehört zum Grundkonsens wie demokratische Werte und Frauenrechte. Darüber hinaus müssen wir in unserer Erinnerungskultur Angebote etwa für Muslime machen. Es gibt gute Ansätze: So könnte beispielsweise die Geschichte des ägyptischen Arztes Mohamed Helmy stärker verbreitet werden. Er ist der einzige Araber, der als Gerechter unter den Völkern von Yad Vashem geehrt wird.
Helmy hatte seine jüdischen Freunde vor den Nazis versteckt und beschützt.
Diese Geschichte zeigt: Muslime waren auch Helden und sind nicht die Feinde der Juden. Gerade in Schulklassen, die einen hohen Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben, sollten Lehrer solche Geschichten erzählen. Aber auch negative Geschichten müssen in den Blick genommen werden, wie die des Großmuftis von Jerusalem, Mohammad Amin al-Husseini, der Hitler 1941 besucht hat und einer der größten Antisemiten war.
Sie fordern, dass die Sicherheitsbehörden sensibler werden müssen für Antisemitismus. Tut sich da etwas?
Ich glaube, ja. Das Attentat von Halle hat noch einmal gezeigt, wie wichtig das ist. So hat beispielsweise die Polizei ihr Bewusstsein für jüdische Feiertage geschärft, dass die Sicherheitsanforderungen an solchen Tagen andere sind. Nun müssen wir dafür sorgen, dass Polizeibeamte, Staatsanwaltschaften und Gerichte Antisemitismus auch immer erkennen können. Zu häufig stufen Gerichte etwas als nicht antisemitisch ein, obwohl es das aus meiner Sicht ganz deutlich ist.
Der antisemitische Anschlag in Halle jährt sich im Oktober. Gibt es Pläne für den Tag?
Es gibt Planungen in Halle selbst und mit der Landesregierung von Sachsen-Anhalt. Da bin ich auch eingebunden. Nach Halle kann die tödliche Dimension von Antisemitismus von niemandem mehr verneint werden. Halle zeigt außerdem in besonders drastischer Weise, dass jeder Opfer eines antisemitischen Anschlags werden kann. Die beiden Toten von Halle waren bekanntlich keine Juden. Über den Jahrestag dieses Anschlags kann man nicht hinweggehen. Ich wünsche mir aber noch eine zweite Botschaft: Dass es ein Wunder ist, nach 1945 wieder aufstrebendes jüdisches Leben in Deutschland zu haben, und dass es zur Vielfalt in Deutschland gehört.
Sie haben mehrmals Kirchen dafür kritisiert, dass sie Antisemitismus in den eigenen Reihen zu wenig Beachtung schenken. Hat sich da etwas getan?
Ich begrüße es sehr, dass die evangelische Kirche mit Christian Staffa einen eigenen Antisemitismusbeauftragten berufen hat. Mit ihm arbeite ich gut zusammen. Das schließt aber nicht aus, dass noch Dinge verbessert werden könnten. Ein aktuelles Beispiel ist, dass die Kirchen, die an der Freigabe von Religionsbüchern beteiligt sind, sensibler sein müssen, wenn über das Judentum informiert wird. Da gibt es zum Beispiel ein Schulbuch in Baden-Württemberg, in dem unter der Überschrift »Judentum heute« das Berliner Holocaust-Mahnmal zu sehen ist. Hier wünsche ich mir mehr Sensibilität.
Das Interview mit dem Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus führten Corinna Buschow und Mey Dudin.