Haiti

Auf die Beine stellen

Schritte in ein neues Leben: Durch das Erdbeben Anfang des Jahres haben viele Haitianer Arme und Beine verloren. Prothesen sollen ihnen dabei helfen, sich künftig im Leben zurechtzufinden. Foto: dpa

Ovinel Henrys muss sich mächtig konzentrieren. Sein Mund sieht verkniffen aus, die Muskulatur ist erkennbar angespannt. Vorsichtig setzt er den linken Fuß auf. Dann hebt er rasch das rechte Bein an, fasst Tritt. Seine Hand stützt sich auf eine Krücke. Ein weiterer Schritt. »Du musst kleinere Schritte machen«, sagt Shany Shiraz mit heiserer Stimme auf Englisch. Rechter Fuß, linker Fuß. »Du musst dir Zeit nehmen«, fügt Übersetzer Guy Thomas im haitianischen Kreyól noch hinzu. Aber Henry hat keine Zeit. Mit großen Schritten strebt er aus dem Behandlungsraum, hinaus auf den Hof des Hôpital Général, des Zentralkrankenhauses in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Der 50-Jährige will wieder gehen können.

Ein schweres Unterfangen. Der rechte, gesunde Fuß steckt zwar in einem funkelnagelneuen Turnschuh. Aus dem linken Schuh schaut dagegen ein silberfarbener Metallstab heraus, der in eine Art dicken Gummischlauch mündet. Das obere Ende des Schlauchs ist über Henrys Oberschenkel gestülpt. Dort endet das Bein des Mannes. Nach dem Erdbeben am 12. Januar musste es amputiert werden. Der Bauer aus der südwestlich von Port-au-Prince gelegenen Hafenstadt Les Cayes war zu Besuch bei seinem Bruder Vanel. Der wohnte in Cité Plis, einem der zahllosen Armenviertel im Zentrum der haitianischen Hauptstadt. Als die Erde bebte, stürzte Henry. Eine Mauer aus Betonsteinen zertrümmerte seinen Fuß.

kunstbein »Mein Bruder hat mich aus den Trümmern herausgeholt und mit Nachbarn ins Krankenhaus gebracht. Aber als ich nach sechs Tagen aus der Ohnmacht aufgewacht bin, war das Bein weg«, erzählt Henry, während er sich immer wieder wippend auf sein linkes Kunstbein stützt. Jetzt ist er im physiotherapeutischen Zentrum. Es ist der zweite Tag, dass er seinen Oberschenkelstumpf in den Kunstharzschaft der Beinprothese zwängt.

»Er ist ein Naturtalent«, sagt Shiraz. Sie ist Physiotherapeutin am Chaim Sheba Medical Center Tel Hashomer, dem größten Krankenhaus in Tel Aviv. Die 31-Jährige hat sich freiwillig gemeldet, um den Menschen in Haiti, die seit dem schweren Beben mit Amputationen sowie Geh- und Greifbehinderungen leben müssen, »wieder auf die Beine zu helfen«, sagt Shany, wie sie Kollegen und Patienten nennen. »Ich habe noch niemanden gesehen, der es in so kurzer Zeit gelernt hat, mit einer Prothese zu laufen.« Ungläubig beobachtet sie ihren Patienten, wie er – für ihre Begriffe viel zu schnell – Schritt für Schritt über den rissigen Betonboden des Krankenhaushofes balanciert und zu Übungszwecken Treppenstufen hinauf- und hinuntergeht. »Du musst kleinere Schritte machen, wenn du bald wieder ohne Stock laufen willst«, sagt sie immer wieder.

Joint Drei Wochen ist die Tel Aviverin im Auftrag der israelischen Hilfsorganisation Magen David Adom (MDA) in Haiti. Mit finanzieller Unterstützung des American Jewish Joint Distribution Committee (Joint) betreut das dem Internationalen Roten Kreuz angeschlossene MDA seit dem Erdbeben Menschen mit Behinderung in dem lateinamerikanischen Land. »Bisher haben wir mehr als 20 Freiwillige in unser Therapiezentrum geschickt«, sagt der Rehamediziner Itzak Sievner, der das Projekt von israelischer Seite koordiniert. Wer Hilfe brauche, bekomme sie, betont er. Dies habe auch etwas mit der Geschichte des Landes zu tun. »Als wir verfolgt wurden, hat man uns geholfen. Jetzt braucht Haiti Hilfe, und wir können sie geben.« Dies sei umso wichtiger, da es in Haiti bisher keine wirkliche Reha für Behinderte gegeben hat.

»Zuerst haben wir nur die frisch Operierten physiotherapeutisch betreut«, erzählt Shany. Inzwischen gehört auch eine modern ausgerüstete Prothesenwerkstatt dazu. Im Juli vereinbarten Magen David Adom, die in Süddeutschland beheimatete Hilfsorganisation LandsAid und das haitianische Rote Kreuz, ein Therapiezentrum für Bewegungseingeschränkte und Amputierte zu errichten. Gleichzeitig soll eine Prothesenwerkstatt entstehen. In den kommenden zwei Jahren werden im Therapiezentrum nicht nur Menschen mit Behinderung behandelt, sondern man will auch haitianisches Personal ausbilden. Eines Tages soll es das Behandlungszentrum und die Werkstatt in Eigenregie übernehmen.

Amputation Als eines der ersten Länder baute Israel bereits kurz nach dem Erdbeben ein Feldlazarett mitten in der Katastrophenzone auf, in dem Verwundete medizinisch versorgt werden konnten. Wunden wurden behandelt, Brüche gerichtet und geschient. Aber bei vielen Patienten halfen diese Notmaßnahmen nichts mehr: Wundinfektionen machten eine Amputation notwendig. Deshalb begannen Mitarbeiter von Magen David Adom sehr bald, eine Ambulanz im zur Universität gehörenden Zentralkrankenhaus aufzubauen.

Die von dem israelischen Fotografen Daniel Kadar, der schon seit Jahren in Haiti lebt, zusammen mit seiner Frau aufgebaute Hilfsorganisation PODEV stellte in Notlagern Wassertanks auf und hat inzwischen zahlreiche Schulen instand gesetzt. Israelische Lehrer und Psychologen kümmern sich um traumatisierte Kinder.

Eine offizielle jüdische Gemeinde gibt es in Haiti nicht. Aber die rund drei Dutzend Jüdinnen und Juden, die im Land leben, haben mit Suppenküchen und Sachspenden den Erdbebenopfern geholfen. Und israelische Hilfskräfte wollen auch in den nächsten Jahren mit ihrer Fachkenntnis beim Wiederaufbau im »Land der Berge« helfen.

Traumata In einem der Therapieräume arbeitet Uli Nachshon. Die Klimaanlage lässt frösteln, durch die metallenen Lamellenfenster dringt Autohupen herein. Laut preisen ambulante Händler vor dem Fenster ihre Billigwaren und Wasser an. Nachshon ist Ergotherapeutin. Sie wurde in Deutschland geboren, ist mit einem Israeli verheiratet und lebt seit 16 Jahren in Tel Aviv. Jetzt sitzt die 42-Jährige einer jungen Frau gegenüber, die auf dem rechten Unterarm eine breite Narbe hat. Gummibälle und Schaumgummiquader liegen auf dem Tisch. Nur schwer kann sie die Hand zu einer Faust ballen und mit den Fingern einen der Gegenstände fassen. Vier Tage lag die Frau unter Trümmern. Um sie herum starben Menschen, während sie auf Hilfe wartete. Sie ist schwer traumatisiert.

»Unsere Kollegen haben hier bei null angefangen. Es gab so gut wie keine Geräte für eine angemessene therapeutische Betreuung«, erzählt Nachshon, die ebenfalls im Chaim Sheba Medical Center Tel Hashomer arbeitet. Therapieeinrichtungen für Behinderte gab es nicht. Inoffizielle Schätzungen sprechen von bis zu 10.000 Menschen, die seit dem Erdbeben mit einer Behinderung leben müssen. »Im Hôpital Général gab es schon vor dem Erdbeben Ansätze, ein Therapiezentrum aufzubauen«, erzählt Nachshon. Robert André, ein in Belgien ausgebildeter Professor des hiesigen Krankenhauses, habe schon vor Jahren Behandlungsgeräte bestellt. Die Verwirklichung seines Traums erlebte er aber nicht mehr. Er starb beim Erdbeben. »Ein paar Wochen danach wurde uns ein Container geliefert mit den Apparaten, die er vor fünf Jahren geordert hatte.«

Schwungrad Die zum Teil wie mittelalterliche Folterinstrumente aussehenden Geräte leisten Uli Nachshon und Shany Shiraz gute Dienste bei der Behandlung ihrer Patienten. Ein großes Schwungrad hilft bei Beweglichkeitsübungen für die Armmuskulatur, daneben schwitzt ein Patient auf einem Standfahrrad.

Die Zusammenarbeit zwischen Magen David Adom und LandsAid ist in Haiti entstanden. MDA war auf der Suche nach einem Partner, der Erfahrung mit Prothesenwerkstätten hat, und LandsAid brauchte dringend kompetente Kooperation im Therapiesektor. »MDA schickt uns die Patienten, die so weit sind, dass sie eine Prothese angepasst bekommen können«, erläutert Birgit Stecher-Hame, die Koordinatorin von LandsAid. Seit Anfang Oktober ist die Werkstatt in Betrieb, können Prothesen hergestellt und angepasst werden. »Gemeinsam mit MDA evaluieren wir die Fälle. Dann kommen sie zu uns.«

Prothese Zuerst wird ein Gipsabdruck des amputierten Stumpfes abgenommen und daraus ein Modell gegossen. Geduldig sitzt Jonny Pierre-Paul auf seinem Stuhl, während Orthopädie-Mechanikermeister Markus Gilbert den Umfang des Oberschenkels misst und den Abstand zwischen Kniescheibenmitte und Fußsohle berechnet. Von dem Gipsabdruck stellt Gilbert einen Kunststoffschaft mit der Beinprothese her, der dann am Stumpf befestigt wird. Während der Meister mit seinem Kollegen Christoph Waltheit die Beinprothese für Pierre-Paul baut, arbeiten die MDA-Therapeuten mit dem 39 Jahre alten haitianischen Zimmermann am Muskelaufbau, damit er mit seinem künstlichen Bein später gut zurechtkommt.

Etwa drei Wochen dauert es, bis ein Beinamputierter wieder laufen kann. Die Mechanik muss fein justiert werden. Mal scheuert der Schaft und muss besser ausgepolstert werden, mal ist es die Muskulatur, die Probleme macht. »In dieser Zeit arbeitet MDA mit LandsAid eng zusammen, damit der Patient die optimale Prothese bekommt«, sagt Stecher-Hame.
Zeltstadt Ovinel Henrys sieht langsam müde aus. Früh am Morgen ist er ins Therapiezentrum gekommen. Er wohnt seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus in einer Zeltstadt auf dem Place Petión direkt gegenüber dem Präsidentenpalast. Er teilt sich die Unterkunft mit seinem Bruder und dessen fünfköpfiger Familie.

Das Treppensteigen hat er zu Shanys Freude gut gemeistert, auch unterschiedliche Belastungsübungen für sein gesundes und sein amputiertes Bein hat er gemacht. Jetzt drückt ihn die Tel Aviver Physiotherapeutin als Abschlussübung mit dem Rücken an die Wand. Er muss in die Hocke gehen und sich mit den Beinen wieder hochdrücken. Eine kraftraubende Anstrengung. »Toll machst du das«, freut sich Shany. »Jetzt tanzen wir«, sagt sie – schon hält Ovinel Henrys mit einem Lachen die Frau im Arm. Der wiegende Schritt und Hüftschwung des haitianischen Kompa-Tanzes machen ihm auch mit einer Oberschenkelprothese keine Schwierigkeiten.

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