Als ein jüdischer Emigrant in Argentinien, ein Mann namens Lothar Herrmann, im Jahr 1957 den ungeheuren Verdacht schöpft, dass der NS-Verbrecher Adolf Eichmann unter falschem Namen in einem Vorort von Buenos Aires versteckt lebt, an wen wendet er sich da? Nicht an den Mossad. Überhaupt nicht an Israel.
Die israelische Regierung konzentriert sich zu dieser Zeit noch ganz auf die dringlichen Aufgaben der Landesverteidigung, für Nazi-Jagden hat sie bisher nichts übrig. Stattdessen schickt der Mann in Argentinien seine brisante Information nach Frankfurt am Main, an den dortigen Generalstaatsanwalt.
SEILSCHAFTEN Jener Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ist eine Ausnahmegestalt, deshalb bekannt bis nach Argentinien. Ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, der 1936 gerade noch fliehen konnte und nach 1945 ausgerechnet in den Zweig des deutschen Staatsdienstes zurückkehrte, der am stärksten von braunen Seilschaften durchsetzt ist: in die Strafjustiz, um für die Bestrafung von NS-Verbrechern zu kämpfen. »Wenn ich mein Arbeitszimmer verlasse, betrete ich Feindesland«, soll Fritz Bauer gesagt haben.
Er ist umgeben von Kollegen, die ihn sabotieren und immer wieder versuchen, NS-Verdächtige vor deren Verhaftung zu warnen.
Wie Bauer es schafft, Adolf Eichmann, den prominentesten noch lebenden Nazi, in Haft und vor Gericht zu bringen, das ist deshalb eine Geschichte davon, wie er es trotz alledem schafft – und es ist eine Geschichte von notgedrungen einsamen Entscheidungen.
TIPP Anfang November 1957 trifft Bauer sich erstmals an einem unbekannten Ort mit dem Vertreter Israels in Deutschland, Felix Schinnar. Nur der hessische Ministerpräsident Georg-August Zinn (SPD), ein Freund Bauers, sei eingeweiht, betont Bauer. Dabei müsse es unbedingt bleiben. Zu viel stehe auf dem Spiel. Bauer befürchtet: Wenn er auf dem offiziellen Dienstweg einen Haftbefehl für Eichmann und eine Auslieferung beantragte, dann würde der sofort untertauchen. Also schlägt er den Israelis eine diskrete Zusammenarbeit vor.
Kurz darauf, im Januar 1958, geht auf Fritz Bauers Tipp hin erstmals ein Mossad-Agent in Buenos Aires auf die Suche nach Eichmann. Doch das mutmaßliche Haus Eichmanns in der Calle Chacabuco 4261 erweist sich als klein und ärmlich; einen Unterschlupf für einen mächtigen Nazi stellt man sich anders vor. Der israelische Agent kehrt ernüchtert zurück, ohne die Sache genauer geprüft zu haben.
Auch diese zweite Mossad-Mission endet in einer Enttäuschung.
Bauer drängt weiter: Bei einem zweiten Treffen mit einem israelischen Verbindungsmann am 21. Januar 1958, diesmal in Frankfurt, lässt er sich das Versprechen geben, dass der Mossad die Spur zu Bauers Tippgeber Lothar Hermann zurückverfolgen werde. Bauer stellt dem israelischen Agenten dafür sogar ein gefälschtes Dokument aus, mit dem sich der Israeli als vermeintlicher Beamter der Frankfurter Justiz ausweisen soll.
Auch diese zweite Mossad-Mission endet in einer Enttäuschung. Wie sich herausstellt, ist Lothar Hermann fast blind, auch wohnt er schon seit Jahren nicht mehr in Buenos Aires, sondern einige Stunden entfernt in der Stadt Coronel Suarez.
Beim Mossad zweifeln sie an ihm. Überhaupt verspüren sie wenig Lust, sich von Fritz Bauer weiter zu einer Lateinamerika-Expedition drängen zu lassen. Die Buenos-Aires-Spur steht damit kurz davor, zu erkalten – doch dann fällt Bauer eine seltsame Nervosität auf.
KUWAIT Eine Reihe von Altnazis melden sich zu Wort. Der deutsche Botschafter in Buenos Aires teilt Bauer am 24. Juni 1958 mit, seine Nachforschungen nach Adolf Eichmann seien sämtlich ergebnislos verlaufen. Zugleich aber: Es sei auch nicht wahrscheinlich, dass Eichmann sich in Argentinien aufhält. Vielmehr sei er vermutlich im Orient.
Dieselbe Botschaft hört Bauer nun auch von einem Abteilungsleiter im Bundeskriminalamt, Paul Dickopf. Er sucht Bauer eigens in dessen Büro auf – was er sonst nie tut –, um ihm von einer Suche in Argentinien abzuraten. Dort sei Eichmann definitiv nicht.
Bauer sieht sich in seinem Gefühl, auf der richtigen Fährte zu sein, eher bestärkt, und als schließlich, drittens, auch der Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle für Ermittlungen gegen NS-Verbrechen, das frühere NSDAP-Mitglied Erwin Schüle, sich im August 1959 meldet und mitteilt, auch er habe erfahren, dass Eichmann sich nicht in Südamerika, sondern vielmehr im Nahen Osten aufhalte, da ersinnt Bauer eine List.
Fritz Bauer reist mehrmals zu Gesprächen nach Israel, um die Entscheidungsträger dort umzustimmen.
Auf der einen Seite wiegt er die Nervösen in Sicherheit. In einer Reihe von Pressemitteilungen erweckt Bauer von Herbst 1959 an den Eindruck, als konzentrierte er seine Ermittlungsbemühungen tatsächlich ganz auf den Nahen Osten. In einer ersten, wie die Eichmann-Expertin Bettina Stangneth schreibt, »offensichtlich komplett erfundenen« Pressemitteilung erklärt Bauer, man gehe davon aus, dass Eichmann im Stab eines Scheichs als »Beauftragter westdeutscher Firmen tätig« sei, wobei es freilich des Juristen Höflichkeit verbiete, diese Firmen beim Namen zu nennen.
Eichmann soll glauben, dass er in Sicherheit sei. Am Tag vor Weihnachten 1959 lädt Bauer sogar mit großer Geste zu einer Pressekonferenz, danach schicken die Nachrichtenagenturen eine Sensationsmeldung über den Draht: »Über die zuständigen Bonner Ministerien wird Generalstaatsanwalt Bauer schon Anfang 1960 ein Ersuchen um Auslieferung Eichmanns an das Emirat in Kuwait richten.«
Es mag zwar alles nur gespielt sein – die Pressekonferenz ist reine Inszenierung, mit dem Mossad abgestimmt –, aber es wirkt: Auch in argentinischen Zeitungen kann man nun lesen, auf welchen Abwegen der Frankfurter Generalstaatsanwalt angeblich wandelt.
DIPLOMATIE Auf der anderen Seite treibt Bauer die Israelis an, sich im Stillen weiter an Eichmann heranzupirschen, jetzt erst recht. Die israelische Regierung zögert. Sie hat politische Bedenken. Eine Ergreifung Eichmanns in Argentinien ohne den offiziellen diplomatischen Vorlauf – der jede Chance auf einen Erfolg zunichtemachen würde – wäre international ein Affront, eine Verletzung der argentinischen Souveränität; schwierig für den jungen jüdischen Staat, der Anerkennung sucht.
Fritz Bauer reist mehrmals zu Gesprächen nach Israel, um die Entscheidungsträger dort umzustimmen. Schließlich greift er sogar zu einer Drohung. Er, Bauer, werde nicht davor zurückschrecken, entgegen seines eigenen Kuwait-Theaters doch noch einen Auslieferungsantrag an Argentinien zu stellen, wenn die Israelis nicht endlich ihre Unschlüssigkeit überwinden. Dann wäre Eichmann gewarnt.
Die Pressekoferenz ist reine Inszenierung. Eichmann soll sich in Sicherheit wiegen.
Am 6. Dezember 1959 notiert Israels Ministerpräsident David Ben Gurion in sein Tagebuch: »Ich habe vorgeschlagen, (Fritz Bauer) möge niemandem etwas sagen und keine Auslieferung beantragen, sondern uns seine Adresse geben. Wenn sich herausstellt, dass er dort ist, werden wir ihn fangen und hierherbringen.« Damit ist die Entscheidung gefällt.
FUNKSTILLE Fritz Bauer versorgt die Israelis weiter mit Beweismitteln gegen Eichmann. Aber welche Fortschritte der Mossad macht, das erfährt er von nun an nicht mehr. Nach Wochen der Funkstille, am 22. Mai 1960, ruft ein israelischer Kontaktmann schließlich bei Bauer in Frankfurt an, er bittet um ein Treffen am nächsten Tag und verspricht, dass er »vielleicht« eine gute Nachricht haben werde. Man verabredet sich in einem Frankfurter Restaurant.
Doch zur vereinbarten Uhrzeit taucht der Israeli nicht auf. Bauer steigert sich von Minute zu Minute in eine größere, fieberhafte Unruhe hinein, halb aus Vorahnung, halb aus Besorgnis – bis nach einer halben Stunde der Israeli, die Hände noch ölig von einer Reifenpanne, zur Tür hereinkommt und sofort mit der Nachricht herausplatzt.
»Wenn ich mein Arbeitszimmer verlasse, betrete ich Feindesland«, soll Fritz Bauer gesagt haben.
Fritz Bauer habe bei der Umarmung Tränen in den Augen gehabt, schreibt der Mossad-Chef Isser Harel in seinen Erinnerungen. Erst zweieinhalb Stunden später erfährt auch der Rest der Welt, dass Eichmann verhaftet und bereits in Israel eingetroffen ist – durch eine Erklärung David Ben Gurions, der um 16 Uhr in Jerusalem vor die Knesset tritt.
Dass hinter all dem die Initiative eines einsamen deutschen Generalstaatsanwaltes steckte, erfährt die Welt nicht. Bauer hütet das Geheimnis, denn er, der an allen Vorschriften vorbei gehandelt hat, wäre sein Amt sonst auf der Stelle los gewesen. Erst nach seinem Tod im Jahr 1968 enthüllt es die israelische Regierung.