Die Auschwitz-Überlebende Marie-Claude Vaillant Couturier hat sich die Namen vieler Opfer gemerkt. Präzise schildert die französische Widerstandskämpferin die Verbrechen: Sie berichtet von medizinischen Experimenten, von Folter, von Selektion und der Ermordung in der Gaskammer. Vaillant Couturier, später mehrere Jahre lang stellvertretende Vorsitzende der französischen Nationalversammlung, war eine wichtige Zeugin im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Er begann vor 70 Jahren, am 20. November 1945 im Schwurgerichtsaal 600.
Zwei Tage zuvor hatte der Internationale Militärgerichtshof in Berlin das Strafverfahren gegen die nationalsozialistische Führungselite und sechs nationalsozialistische Organisationen eröffnet. In Nürnberg saßen 21 NS-Politiker, Militärs und NSDAP-Funktionäre auf der Anklagebank – darunter Reichsmarschall Hermann Göring, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop und Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß. Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Heinrich Himmler hatten bereits im Frühjahr Suizid begangen.
massenmord Martin Bormann, Leiter der NSDAP-Parteizentrale, galt als verschollen und wurde in Abwesenheit verurteilt. Die Anklage lautete: Verschwörung gegen den Weltfrieden, Führung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Massenmord an den Juden war kein eigener Anklagepunkt, er wurde vor allem unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt.
Der Prozess war aufwändig: 218 Tage lang wurde verhandelt, rund
140 Zeugen waren geladen. Als Beweismaterial dienten den Richtern Fotografien, Protokolle, Briefe und NS-Propagandamaterial. Auch Filme, die die Alliierten bei der Befreiung der Konzentrationslager gedreht hatten, wurden während des Prozesses gezeigt.
»Die Ankläger wollten den kriminellen Charakter des nationalsozialistischen Regimes an sich und nicht lauter Einzelverbrechen ahnden«, sagt die Kuratorin der Gedenkstätte »Memorium Nürnberger Prozesse«, Henrike Claussen. »Ziel war es, die Angeklagten zu überführen anhand von ihnen selbst unterschriebenen Dokumenten.« Am Ende des Prozesses standen zwölf Todesurteile, sieben Haftstrafen – davon drei lebenslänglich – und drei Freisprüche. Zu den zum Tode Verurteilten gehörten Ribbentrop, Keitel und Göring, der sich dem Henker durch Suizid entzog. Rudolf Heß erhielt lebenslänglich.
journalisten Das internationale Interesse an dem Prozess war groß. Journalisten und Schriftsteller aus aller Welt waren nach Nürnberg gereist, in die einstige Stadt der nationalsozialistischen Reichsparteitage und der antisemitischen Rassegesetze. Der US-Schriftsteller John Steinbeck nahm auf der Pressetribüne Platz, ebenso wie die in die USA emigrierte Autorin Erika Mann und die deutschen Schriftsteller Alfred Döblin und Erich Kästner.
»Jetzt sitzen also der Krieg, der Pogrom, der Menschenraub, der Mord en gros und die Folter auf der Anklagebank«, notierte Kästner in einem Artikel für die »Neue Zeitung«, die in der amerikanischen Besatzungszone erschien. »Riesengroß und unsichtbar sitzen sie neben den angeklagten Menschen.«
Der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess war der erste Prozess, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg die Verbrechen des Nationalsozialismus verhandelt wurden. Anders als bei späteren bundesdeutschen Gerichtsverfahren wie dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main urteilten in Nürnberg sowjetische, britische, US-amerikanische und französische Richter gemeinsam über die NS-Verbrechen. Bis 1949 folgten vor einem US-amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg noch weitere zwölf Prozesse, in denen unter anderem Ärzte, Industrielle und Juristen auf der Anklagebank saßen.
völkerrecht Für die Geschichte des Völkerrechts spielt der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess eine bedeutende Rolle. »Im Großen und Ganzen ist dieser Prozess ein Novum in der Geschichte des modernen Völkerrechts«, sagt die Jenaer Historikerin Annette Weinke. Erstmals in der Geschichte hatten in Nürnberg vier Staaten mit völlig unterschiedlichen Verfassungen einen internationalen Gerichtshof einberufen, um über Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit zu verhandeln.
So gesehen sei Nürnberg »die Wiege dessen, wie wir heute versuchen, mit systematischen Menschenrechtsverletzungen umzugehen«, sagt Henrike Claussen. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, aber auch Ad-hoc-Strafgerichtshöfe wie der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda seien ohne die Prinzipien von Nürnberg nicht denkbar.