Zuwanderer

Arm im Alter

Etwa 30.000 Juden in Deutschland droht im Seniorenalter die Abhängigkeit von Grundsicherung. Foto: imago

Wie es zu der rentenrechtlichen Ungleichbehandlung von jüdischen »Kontingentflüchtlingen« und Spätaussiedlern kommen konnte, wollte die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen vom Arbeits- und Sozialministerium wissen. Die Antwort auf die Kleine Anfrage liegt seit Mitte Dezember vor: Spätaussiedler sind »deutsche Volkszugehörige«, heißt es, auf denen »infolge der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges ein erheblicher Vertreibungsdruck« lastete. Juden hingegen seien »nicht deutschstämmige Personen, die einem Vertreibungsdruck nach Deutschland nicht ausgesetzt waren«.

Die in den frühen 90er-Jahren eingesetzte Auswanderung von Juden aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion sei vielmehr erfolgt, um für den »Erhalt und die Stärkung der Lebensfähigkeit der jüdischen Gemeinden in Deutschland« zu sorgen. Zudem verweist das von Andrea Nahles (SPD) geführte Ministerium darauf, dass Schoa-Überlebende bereits Entschädigungsleistungen erhielten. »Vor diesem Hintergrund sieht die Bundesregierung keinen Anhaltspunkt für weitere Maßnahmen.« Diese Aussagen empören nicht nur den grünen Bundestagsabgeordneten Volker Beck, der die Kleine Anfrage gestellt hatte, sondern auch Danil Simkin, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft jüdischer Zuwanderer »Würde im Alter«. Er nennt dies »nicht akzeptabel«.

sozialhilfe Die Bundesregierung, so die Kritiker, drücke sich vor dem gravierenden Problem der Altersarmut jüdischer Zuwanderer, die als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen waren.

Auch die Auskunft, die Bundesregierung bemühe sich schon lange um ein Sozialversicherungsabkommen mit Russland, dem Land, aus dem die meisten Zuwanderer kommen, hat nach Einschätzung von Simkin nichts mit den aktuellen Problemen der Zuwanderer zu tun. »Das bringt uns Juden so gut wie nichts«, sagt er. Wenn Renten aus der früheren Arbeit von Russland überwiesen würden, werde das ohnehin mit der Grundsicherung verrechnet. »Das Geld geht nur zum Sozialamt.«

Bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) geht man davon aus, dass etwa 30.000 Menschen von Altersarmut bedroht sind. Das sind etwa 30 Prozent der vom Zentralrat vertretenen Gemeindemitglieder. In der gesamten deutschen Bevölkerung sind nur etwa drei Prozent von Altersarmut betroffen.

rentenrechte Der Verein »Würde im Alter« fordert daher »Rente statt Sozialhilfe«, konkret, dass die Rentenrechte jüdischer Zuwanderer den Rentenrechten von Spätaussiedlern gleichgestellt werden. Damit soll politisch anerkannt werden, »dass die jüdische Zuwanderung nach Deutschland eine der direkten Folgen des Zweiten Weltkriegs und mit der Übersiedlung von Spätaussiedlern vollkommen vergleichbar ist«, sagt Simkin.

Auch die Ausrede, es gebe kein Geld, lassen Simkin und sein Verein nicht gelten: Die Gelder seien da – »das sind die Beiträge von der jüngeren arbeitenden, erfolgreich integrierten Generation jüdischer Zuwanderer«. Deutschland müsse nur die Prinzipien des Generationenvertrages auch auf die Gruppe der jüdischen Zuwanderer anwenden.

Bei seiner Arbeit muss der Verein »Würde im Alter« immer gegen drei Vorurteile ankämpfen: Zum Ersten, es gehe ihnen um Entschädigung, zum Zweiten, ihre Situation habe etwas mit einem zu langen Beharren auf der Anerkennung ihrer sowjetischen Berufsabschlüsse zu tun, und zum Dritten, sie seien keine Deutschen, sondern nur so etwas wie »geduldete Russen«.

vorurteile Um Entschädigungsforderungen, die sich aus den NS-Verbrechen begründen, geht es deswegen nicht, weil über diese auf anderen Ebenen gesprochen wird. Hier geht es um die Zuwanderung, die Anfang der 90er-Jahre politisch gewollt war – keinesfalls nur, um die jüdischen Gemeinden zu stärken, sondern auch wegen des anwachsenden Antisemitismus in etlichen Folgerepubliken der Sowjetunion.

Dass in der Sowjetunion erworbene Qualifikationen nicht anerkannt wurden, ist nicht das zentrale Problem, sagt Danil Simkin: Dass Zuwanderer Arbeiten übernähmen, für die sie überqualifiziert seien, sei »schade, aber normal«.

Dass die Bundesregierung von zu privilegierenden »Deutschstämmigen« spricht, empört auch: Da müsse man schon einen »rassischen Deutschtumsbegriff« zugrunde legen, sagte etwa Volker Beck. Der Grünen-Politiker verweist darauf, dass und wie es auch anders geht: »In Spanien und Portugal etwa haben die Nachkommen der im 15. Jahrhundert vertriebenen Juden erst jüngst die Möglichkeit eingeräumt bekommen, die jeweilige Staatsbürgerschaft zu erhalten.« Was beim »Spanisch-« oder »Portugiesischtum« gehe, müsse doch wohl auch beim »Deutschtum« möglich sein.

So dringend das Problem der Altersarmut unter jüdischen Zuwanderern ist, so wenig Grund zum Optimismus haben die Betroffenen, erst recht nach der ernüchternden Auskunft des Sozialministeriums, wonach »aus der Aufnahme jüdischer Zuwanderer in Deutschland keine Verpflichtung resultiert, ihnen im Alter eine Rente der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zu zahlen«.

Geschichte

Rechts und links: Wie die AfD ein falsches Goebbels-Zitat verbreitet

Ein Faktencheck

 02.07.2025

Reaktionen

Massive Kritik an Urteil über Charlotte Knoblochs Ex-Leibwächter

Der Mann bewachte die Präsidentin der IKG München, obwohl er sich privat judenfeindlich und rassistisch äußerte. Für das Verwaltungsgericht nicht genug, um ihn aus dem Polizeidienst zu entlassen

 02.07.2025

Kommentar

Justiz: Im Zweifel für Antisemitismus?

Ein Verwaltungsgerichtsurteil lässt große Zweifel aufkommen, dass es alle mit der Bekämpfung von Antisemitismus unter Beamten ernst meinen

von Michael Thaidigsmann  02.07.2025

Australien

Zwei Krankenpfleger, die damit drohten, jüdische Patienten zu töten, haben Arbeitsverbot

Im Februar sorgte ein TikTok-Video für Abscheu und Empörung, in dem zwei Krankenpfleger ihrem blanken Judenhass freien Lauf ließen. Nun stehen sie vor Gericht

 02.07.2025

Nach Skandal-Konzert

Keine Bühne bieten: Bob-Vylan-Auftritt in Köln gestrichen

Die Punkband hatte beim Glastonbury-Festival israelischen Soldaten den Tod gewünscht

 02.07.2025

Statistik

Deutlich mehr antisemitische Vorfälle in Brandenburg

Der aktuelle Monitoringbericht der Fachstelle Antisemitismus für 2024 dokumentiere einen Anstieg um mehr als 28 Prozent auf insgesamt 484 Fälle

 02.07.2025

Pro & Contra

Sollte der Krieg in Gaza beendet werden?

Zwei Meinungen zur Debatte

von Dan Schueftan, Sabine Brandes  02.07.2025

Einspruch

Wir müssen gegen den Iran wehrhaft sein

Die deutsche Politik braucht eine entschlossene Haltung gegen die terroristische Bedrohung aus Teheran. Die jüdischen Gemeinden machen es vor: Sie investieren in Sicherheit und mentale Standhaftigkeit

von Josef Schuster  02.07.2025

Berlin

»BILD«: Hinweis auf Ausspähung von deutschen Juden durch den Iran kam vom Mossad

Die Hintergründe

 01.07.2025