Sie wollte es vielen recht machen, und das gelang ihr weitgehend: Das Europäische Parlament hat Ursula von der Leyen am Donnerstag in Straßburg mit großer Mehrheit eine zweite fünfjährige Amtszeit an der Spitze der Europäischen Kommission gewähr.
Im Vorfeld war keineswegs ausgemacht, dass von der Leyen die geforderte absolute Mehrheit von 360 Abgeordneten erreichen würde. Die Wahl war geheim; Fraktionsdisziplin ist für die direkt gewählten Parlamentarier aus den 27 EU-Mitgliedsstaaten normalerweise ein Fremdwort.
Am Ende bekam von der Leyen dann doch ein gutes Ergebnis, über das sie sich sichtlich freute: 401 Abgeordnete schenkten ihr das Vertrauen, deutlich mehr als 2019. Bei ihrer ersten Wahl hatte die Niedersächsin nur acht Stimmen über der absoluten Mehrheit.
»Fratelli d’Italia« für Mehrheit nicht nötig
Die Erfahrung von damals und das Wissen, dass sie gemäß den EU-Verträgen wohl keine zweite Chance bekommen würde, hatte von der Leyen und ihr Team angespornt, in den Wochen vor der Abstimmung nichts unversucht zu lassen, um möglichst viele Abgeordnete zu überzeugen.
Doch nicht mit allen Fraktionen führte sie Gespräche. Am Wahlabend vor sechs Wochen hatte von der Leyen zunächst angedeutet, sie wolle nur auf Sozialdemokraten und Liberale zugehen. Doch am Ende waren es die grünen Parlamentarier, die fast geschlossen ankündigten, trotz Vorbehalten für sie zu stimmen. Die FDP-Abgeordneten sprachen sich in letzter Minute gegen von der Leyens Wiederwahl aus - was bei vielen in den Reihen der CDU/CSU Kopfschütteln auslöste.
Die deutsche Vorsitzende der Grünen-Fraktion, Terry Reintke, beglückwünschte die Gewählte denn auch fast überschwänglich zur Wiederwahl und umarmte sie im Plenarsaal lange und innig. Die rechte Partei »Fratelli d’Italia« von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni war für eine Mehrheit nicht mehr nötig. Melonis Partei hatte angekündigt, von der Leyen nicht zu wählen.
Ein formelles Bündnis der vier Parteien der Mitte gab es jedoch zwar ebenso wenig wie einen Koalitionsvertrag. Um 8 Uhr am Donnerstag, nur eine Stunde, bevor von der Leyen ans Rednerpult trat, wurden ihre »Politischen Leitlinien« auf der Webseite der Kommission veröffentlicht. In Windeseile mussten die Abgeordneten, mit denen von der Leyen über eine Zusammenarbeit verhandelt hatte, prüfen, ob wenigstens einige ihrer Forderungen erfüllt waren. Dem war offenbar so.
Im Vorfeld gab es Kritik an von der Leyen
Nach einer kurzen Aussprache begann um 13 Uhr der erste und einzige Wahlgang. Jedem im Plenarsaal war bewusst: Würde die deutsche Christdemokratin, die bei der Europawahl am 9. Juni Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei (EVP) war, der auch CDU und CSU angehören, scheitern, würde das die gesamte EU in eine schwere politische Krise stürzen – und das auch noch zu Beginn der Sommerpause.
Nach den jüngsten Ereignissen in einigen EU-Staaten hatten die meisten Abgeordneten darauf keine Lust. Auch die SPD-Delegation im Europaparlament war einigermaßen zufrieden und stimmte der Wiederwahl der Kommissionspräsidentin zu. Dennoch wurde in der Debatte durchaus Kritik an von der Leyen laut: Eine rechte polnische Parlamentarierin zerriss am Rednerpult demonstrativ mehrere Zettel. Die Mehrheit der Abgeordneten ließ sich jedoch in die Pflicht nehmen und stimmte für die 65-jährige deutsche Christdemokratin.
Beim letzten Mal hatten die meisten Grünen und Sozialdemokraten anders abgestimmt. Damals hatte der Europäische Rat von der Leyen gleichsam wie ein Kaninchen »aus dem Hut gezaubert« - als Ersatz für den EVP-Chef Manfred Weber, der für viele nicht als Kommissionspräsident in Frage kam. Dass von der Leyen bei der Wahl im Juni jetzt die Spitzenkandidatin war, gab für viele Parlamentarier links der Mitte den Ausschlag, sie zu wählen. Aus demokratischer Gepflogenheit sozusagen.
Von der Leyen übt verhaltene Kritik an Israel
Von der Leyen achtete in ihrer Rede peinlich genau darauf, möglichst niemanden zu verprellen und ihren potenziellen Unterstützerkreis so groß wie möglich zu halten. Konkret manifestierte sich das zum Beispiel darin, dass die Kandidatin – eher unüblich für sie - verhaltene Kritik an Israel übte und Hilfen für den Aufbau eines Palästinenserstaates ankündigte. Europa, sagte von der Leyen, habe die Pflicht, eine aktive Rolle in der Welt zu spielen, insbesondere im Nahen Osten. »Das Blutvergießen in Gaza muss sofort aufhören. Viel zu viele Kinder, Frauen und Zivilisten haben ihr Leben verloren, nachdem Israel auf den brutalen Terror der Hamas reagiert hat.«
Dass die Hamas zerschlagen werden müsse, sagte sie ausdrücklich nicht. Dafür aber dies: »Die Menschen in Gaza können nicht noch mehr ertragen. Die Menschheit kann es nicht ertragen. Wir brauchen einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand. Wir brauchen die Freilassung der israelischen Geiseln. Und wir müssen den Tag danach vorbereiten.«
Für diesen »Tag danach« müsse Europa seinen Teil dazu beitragen, so die Kommissionspräsidentin. Neben humanitärer Hilfe von 200 Millionen Euro arbeite man »an einem viel größeren mehrjährigen Unterstützungspaket für eine effektive Palästinensische Behörde.« Die Zusammenarbeit mit Israel oder die bilateralen Beziehungen erwähnte sie hingegen (absichtlich) nicht, denn wie die Aussprache anschließend zeigte, wird dies auf der linken Seite des Hohen Hauses durchaus als kontrovers eingestuft.
Kein Wort zum Thema Antisemitismus
Mehrere Redner von der extremen Linken warfen von der Leyen vor, nach dem 7. Oktober Israel besucht und sich mit Premier Benjamin Netanjahu gezeigt zu haben. Der, so meinten sie, verübe in Gaza einen »Völkermord« und müsse sanktioniert werden. Das will von der Leyen nicht – sie wagte sich zum Thema Israel aber ebenso wenig aus der Deckung wie zum Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens in Europa – ein Thema, das sie in ihren jährlichen Ansprachen zur Lage der EU gerne erwähnt.
Kein Wort dazu, weder in ihren Leitlinien für die kommenden Jahre noch in ihrer einstündigen Ansprache an die Abgeordneten. Das Thema spielte offenbar keine Rolle in den Verhandlungen mit den Parteien der Mitte.
Seitenhiebe gegen Viktor Orbán
Fast die einzige rhetorische Spitze, die sich von der Leyen in ihrer rund einstündige Rede gönnte, war ein Seitenhieb auf Viktor Orbán, den sie aber nicht beim Namen nannte. Der ungarische Ministerpräsident, dessen Regierung aktuell die sechsmonatige Präsidentschaft des Rates der EU innehat, war kürzlich nach Kiew, Moskau, Peking und in die USA gereist – angeblich, um dort für Frieden in der Ukraine zu werben. Mit seinen Partnern hatte Orbán, dem eine Nähe zu Wladimir Putin nachgesagt wird, vorab nicht abgesprochen.
Kritiker auch im eigenen Land vermuten, dass Orbán die Reise zu Putin eher zur persönlichen Profilierung denn zu echten Verhandlungen unternommen hatte. Von der Leyen erhielt großen Beifall, als sie dem Ungarn (der nicht nach Straßburg gekommen war) auf Englisch vorhielt, seine »so genannte Peace Mission« sei in Wahrheit nichts anderes als eine »Appeasement-Mission«.
Von der Leyen weiter: »Nur zwei Tage später richteten Putins Jets ihre Raketen auf ein Kinderkrankenhaus und eine Entbindungsstation in Kiew. Wir alle haben die Bilder von blutüberströmten Kindern und Müttern gesehen, die versuchten, junge Krebspatienten in Sicherheit zu bringen. Dieser Angriff war kein Irrtum. Er war eine Botschaft. Eine abschreckende Botschaft des Kremls an uns alle.«
Von der Leyens Version von Appeasement
Künftig wolle sie sich, erklärte die alte und neue Kommissionspräsidentin in einer Pressekonferenz im Anschluss an ihre Wiederwahl, auf eine Mehrheit im Parlament stützen, die »proeuropäisch, pro Ukraine und pro Rechtsstaatlichkeit« sei. Es gelte nun, die Demokratie in der EU zu stärken und die Union gegen ihre Feinde im Innern und von außen zu beschützen.
Es war in gewisser Weise von der Leyens Version eines Appeasements. Ausdrücklich danke sie der Fraktion der Grünen für die Wahlhilfe – aus gutem Grund, denn die Stimmen der deutschen Grünen hatte sie beim letzten Mal nicht bekommen.
Der bündnisgrüne Abgeordnete Daniel Freund, der sich in den letzten Jahren vor allem als Verfechter von mehr Transparenz und Rechtsstaatlichkeit und als scharfer Kritiker der Orbán-Regierung profiliert hatte, teilte auf X mit, er habe trotz Vorbehalten für von der Leyen votiert, weil sie sich in ihrer Rede klar von Orbán abgegrenzt habe.
Freunds Mitstreiter bei diesem Thema, der FDP-Abgeordnete Moritz Körner, kam hingegen zu einem anderen Schluss. Als Grund sagte Körner, von der Leyen habe ihr Versprechen hinsichtlich der Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien nicht eingehalten. »Europa kann mehr, Europa verdient mehr«, schrieb er auf X. Seine Kollegin Marie-Agnes Strack-Zimmermann votierte ebenfalls mit Nein. Sie lieferte sich auf X eine heftige Auseinandersetzung mit dem CDU-Mann Dennis Radkte.
Von der Leyen geht gestärkt hervor
Obwohl die wiedergewählte Präsidentin nun in Absprache mit den Regierungen der Mitgliedsstaaten ihr 27-köpfiges Kommissarskollegium zusammenstellen und sich anschließend erneut einem Votum im Parlament stellen muss, ist der Weg de facto für sie frei. Die größte Hürde, in einer geheimen Wahl zu bestehen, hat sie genommen. Sie wolle die neue Mannschaft paritätisch mit Männern und Frauen besetzen, sagte von der Leyen nach ihrer der Wahl in Straßburg.
Auch die anderen Spitzenposten in der EU stehen fest: Die bisherige estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas (Liberale) wird neue Außenbeauftragte der EU und Stellvertreterin von der Leyens. Sie folgt auf den Spanier Josep Borrell. Der Portugiese António Costa (Sozialisten) folgt auf den Belgier Charles Michel im Vorsitz des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs. Und auch im Amt der Parlamentspräsidentin ändert sich vorerst nichts: Die Malteserin Roberta Metsola wird für weitere zweieinhalb Jahre amtieren.
Ursula von der Leyen geht in jedem Fall gestärkt aus dieser wichtigen Straßburg-Woche. Sie hat einen beachtlichen Wahlerfolg erzielt. Viele hatten das zuvor nicht für möglich gehalten.