Frau Ministerin, hat die bundesdeutsche Justiz das Ausmaß der antisemitischen Bedrohung erkannt?
Mir ist es ganz wichtig, dafür zu sorgen, dass dies noch deutlicher erkannt wird. Nicht nur bei der Justiz, auch bei der Polizei können wir noch besser werden. Ich fand es beeindruckend, dass bayerische Staatsanwälte erklärt haben, sie würden Verfahren nicht mehr wegen Geringfügigkeit oder geringer Schuld einstellen, wenn es den Verdacht eines antisemitischen Hintergrunds gibt. Es zeigt, dass hier der Wille vorhanden ist, diese Taten nicht zu bagatellisieren.
Sie haben in letzter Zeit mit verschiedenen Vertretern des jüdischen Lebens gesprochen. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Viele unterschiedliche und wertvolle Erkenntnisse. Aber ein Gespräch hat mich besonders betroffen gemacht – das im Jüdischen Gymnasium Berlin. Dort haben mir junge Leute erzählt, dass sie staatliche Schulen verlassen haben, weil sie sich dort als Juden nicht mehr sicher fühlten. Sie betrachten das Jüdische Gymnasium als Zufluchtsort. Sie haben beschrieben, wie sie in der Schule gemobbt wurden, und dass die Schulen nicht so reagiert haben, wie man es sich in solchen Fällen wünscht. Das macht deutlich, dass es nicht nur auf Polizei und Justiz ankommt. Es ist nicht hinnehmbar, dass so etwas als altersbedingte Rangelei abgetan wird und die antisemitischen Hintergründe ignoriert werden.
Was läuft schief, wenn von Gerichten ein Brandanschlag auf eine Synagoge, wie 2014 in Wuppertal, nicht als antisemitische Straftat, sondern als Kritik an der Politik Israels bewertet wird?
Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich als Justizministerin keine Urteile bewerten kann. Doch ist für mich klar, dass Meinungsfreiheit da endet, wo das Strafrecht beginnt. Demonstrations- und Meinungsfreiheit sind sehr hohe Güter. Doch ist für mich das Werfen von Brandsätzen kein Ausdruck der Meinungsfreiheit, sondern erfüllt einen Straftatbestand. Im einzelnen Fall haben das die Gerichte zu bewerten.
Nach der Messerattacke vor der Neuen Synagoge sagte Berlin Innenstaatssekretär Torsten Akmann, er könne den Wunsch von Juden nach emotionalem Schutz sehr gut verstehen. Doch braucht es nicht mehr, wenn der Tatverdächtige kurz vor Jom Kippur wieder auf freien Fuß gesetzt wird?
Jüdische Bürgerinnen und Bürger haben nicht nur einen Anspruch auf emotionale Unterstützung, sondern auf tatsächlichen Schutz. Das ist die Botschaft, die wir aussenden müssen. Es ist wichtig, dass gerade an solchen Feiertagen jüdische Einrichtungen besonders geschützt werden. Ich glaube, es ist klar geworden, insbesondere durch den schrecklichen Anschlag in Halle, dass die Schutzmaßnahmen erhöht werden müssen. Zum Vorgang an der Neuen Synagoge in Berlin kenne ich die genaue Begründung nicht. Ich habe Verständnis dafür, dass dieser Vorgang zu einer sehr großen Verunsicherung geführt hat. Und deswegen ist es unsere Verantwortung, dass wir tatsächlichen Schutz gewährleisten.
Nach dem Angriff auf Rabbiner Teichtal hatte Berlins Justizsenator Behrendt getwittert, man werde nicht nachlassen, Antisemitismus in allen Erscheinungsformen zu bekämpfen. Er habe dem Rabbiner seine persönliche Solidarität erklärt. Passt es dann, dass kurz danach die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen einstellt?
Wir können rechtsstaatliche Grundsätze nicht über Bord werfen. Und es ist ein rechtsstaatlicher Grundsatz, dass bewiesen werden muss, wer eine Tat begangen hat. Das ist in manchen Fällen, wie wohl auch in diesem, sehr schwierig. Am Ende des Tages muss jeder Richter und Staatsanwalt in jedem Verfahren rechtsstaatliche Grundsätze einhalten. Sie müssen die Beweise haben, sie müssen identifizieren können. Aber der Rechtsstaat hat auch andere Möglichkeiten. Ich finde es ganz wichtig, dass wir gegen antisemitische Übergriffe konsequent vorgehen. Wir müssen auch den Verfolgungsdruck auf diejenigen erhöhen, die solche Taten begehen. Dass sie wissen, dass das nicht mehr als Kleinigkeit abgetan wird, sondern dass gehandelt wird. Deswegen finde ich es eine ganz wichtige Botschaft, wenn Staatsanwälte sagen: Stellt euch darauf ein, dass wir Verfahren nicht einstellen, sondern dass ermittelt wird. Damit senden wir ein Signal, dass wir dieses Thema mit hoher Priorität auf der Tagesordnung haben.
In Dortmund wendet sich die Polizei an die Öffentlichkeit, nachdem ihr vom Oberverwaltungsgericht Münster untersagt wird, die Parole »Nie, nie, nie wieder Israel« auf einer Demonstration von Rechtsextremen zu verbieten. Ist das die richtige Botschaft?
Demonstrations- und Meinungsfreiheit sind verfassungsrechtlich garantiert. Das ist ein hohes Gut, und ich finde, dass wir daran nicht rütteln sollten. Sie findet ihre Grenzen, wo gegen das Strafrecht verstoßen wird. Ich kann gegen eine Versammlung vorgehen, wenn die öffentliche Sicherheit gefährdet ist. Aber das muss vor Ort entschieden werden. Allein mit Verboten und Einschränkungen wird rechtsextremes Gedankengut nicht bekämpft werden können. Da müssen wir andere Wege gehen.
Sie erwarten bei Polizei und Justiz eine höhere Sensibilität bei antisemitischen Straftaten. Woher soll die kommen?
Hier ist ein entscheidender Punkt, zu erkennen, dass es sich nicht nur um eine Meinungsäußerung handelt, sondern dass mehr dahintersteckt. Das ist eine Aufgabe, die wir angehen müssen, zum Beispiel in der Richterfortbildung. Wir müssen dafür sorgen, dass das Thema noch intensiver besprochen wird – in der Justiz, aber auch in der Polizei, durch Fortbildung und Informationen. Das ist der richtige Ansatz, um deutlich zu machen, dass es sich hier nicht um Petitessen handelt.
Müssten dabei auch die Strafgesetze konsequenter angewendet werden?
Wir haben heute bereits die Möglichkeit, über den Paragrafen 46 des Strafgesetzbuches bestimmte Motive einer Straftat strafverschärfend zu berücksichtigen. Das war auch eine Reaktion auf die Morde des sogenannten NSU. Damals haben wir lange um die entsprechende Formulierung gerungen. Was jetzt im Gesetz steht, war seinerzeit gesellschaftlicher Konsens, auch mit der jüdischen Gemeinschaft. Nun stellt sich die Frage, ob es ausreichend formuliert ist.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, regt an, antisemitische Motive in Paragraf 46 explizit aufzuführen. Sind Sie dafür?
Ja. Hierzu habe ich zahlreiche intensive Gespräche geführt, auch mit Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Um hier ein klares Zeichen zu setzen, werde ich eine Gesetzesänderung in Paragraf 46 Absatz 2 Strafgesetzbuch vorschlagen. Ich möchte, dass hier antisemitische Motive ausdrücklich als strafschärfend benannt werden. Damit geben wir ein klares Signal, dass wir hart und mit allem Nachdruck gegen Antisemitismus vorgehen.
Sie setzen sich auch für mehr Prävention ein. Warum?
Weil ich glaube, dass wir da vor allem bei Jugendlichen mehr leisten müssen als bisher. Deshalb bin ich froh, dass ich hierfür vom Haushaltsauschuss des Bundestags zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt bekommen habe. Es ist wichtig, frühzeitig zu handeln, gerade in einem gewissen Alter, in dem sich Jugendliche mit verschiedenen politischen Fragen auseinandersetzen. Da muss deutlich werden, dass Kritik an Israel nicht als Alibi genutzt werden darf, um antisemitische Sprüche oder Drohungen zu äußern. An israelischer Politik kann man genauso Kritik üben wie an deutscher. Doch darf das nicht der Umweg sein, um antisemitische Ressentiments zu schüren. Deswegen ist es mir auch wichtig, dass wir im schulischen Bereich aufklären. Mein Besuch im Jüdischen Gymnasium hat mir das vor Augen geführt. Mich bedrückt, dass die jüdischen Schüler die staatliche Schule verlassen haben und so der Eindruck erweckt wurde, es wäre alles gut. Nein, nichts ist gut. Dadurch hat sich nichts an dem Gedankengut geändert. Deshalb ist es so wichtig, dass man in den Schulen mehr Aufklärungsarbeit betreibt und die Themen Israelkritik und Antisemitismus offen anspricht.
Sie haben auch angekündigt, dass jemand, der im Netz hetzt und droht, künftig härter und effektiver verfolgt wird. Was ist da vorgesehen?
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz verlangt, dass bestimmte Inhalte gelöscht oder gesperrt werden müssen, wenn sie den Betreibern gemeldet werden. Das ist mir zu wenig. Denn damit habe ich keine Möglichkeit zu ermitteln. Wenn ich ermitteln will, brauche ich die IP-Adresse desjenigen, gegen den die Ermittlung erfolgt. Das ist ein sehr schwieriger und komplizierter Vorgang, weswegen es oft gar nicht zu Ermittlungen kommt. Deswegen haben wir uns darauf verständigt, dass wir neben dem Sperren und Löschen eine Meldepflicht einführen werden, wenn es um Morddrohungen oder Volksverhetzung geht. Das muss an die Ermittlungsbehörden weitergegeben werden. Hierfür wird es beim Bundeskriminalamt eine Zentralstelle geben, die das dann bewertet und an die zuständige Staatsanwaltschaft weiterreicht. Damit jeder weiß: Das wird schnell und konsequent verfolgt. Wir werden das nicht nur gesetzlich festlegen, sondern auch zusätzliches Personal bereitstellen. Es wird zahlreiche Stellen beim BKA geben, die dafür zuständig sind. Das ist ein ganz wichtiges Signal.
Auch auf Beleidigungen im Netz soll deutlicher reagiert werden?
Wir werden eine Strafverschärfung einführen, wenn die Beleidigung öffentlich geschieht. Im Internet bekommt die ganze Welt derartige Beleidigungen zu sehen, das hat zum Beispiel auch die Konsequenz, dass sich andere aufgefordert fühlen, noch eins an Widerlichkeit oder Unverschämtheit draufzusetzen. .
Unter anderem äußert die FDP Zweifel an den Maßnahmen: Das eigentliche Dilemma sei die geringe Verurteilungswahrscheinlichkeit bei angezeigten Fällen. Teilen Sie diese Bedenken?
Ich möchte jedenfalls die Voraussetzungen schaffen, dass es zu mehr Verurteilungen kommen kann. Den Vorwurf kann ich nicht ganz verstehen.
Die »Zeit« zitierte kürzlich die Regisseurin und Schriftstellerin Adriana Altaras: Freunde würden ihr sagen, sie ertrügen Deutschland nicht mehr, weil der Staat, außer ein sorgenvolles Gesicht aufzusetzen, nichts gegen Antisemitismus unternehme. Können und wollen Sie dem widersprechen?
Absolut! Und ich kann nur alle auffordern, genau hinzusehen, was getan wird. Es ist eine deutliche Veränderung eingetreten. Die vielen Maßnahmen, die wir in den vergangenen Wochen auf den Weg gebracht haben, zeigen deutlich, dass Antisemitismus in diesem Land nicht akzeptiert ist und hart dagegen gearbeitet wird. Es ist traurig, dass es dazu schlimme Übergriffe geben musste. Aber ich würde mir wünschen, dass auch unsere Anstrengungen in der jüdischen Gemeinschaft wahrgenommen werden.
Mit der Bundesjustizministerin sprach Detlef David Kauschke.