Seit über 700 Jahren hängt an der Wittenberger Stadtkirche ein antisemitisches Sandsteinrelief. Es zeigt eine Sau und an deren Zitzen zwei durch ihre spitzen Hüte als Juden identifizierbare Menschen. Ein Rabbiner hebt den Schwanz des Tiers und blickt ihm in den After.
Es ist das Gotteshaus, in dem im 16. Jahrhundert Martin Luther predigte, dessen Antisemitismus die evangelische Kirche erst in den vergangenen Jahren eingehender thematisierte. In Anlehnung an zwei judenfeindliche Hetzschriften des Reformators wurde 1570 als zusätzliche Schmähung über dem Relief die Inschrift »Rabini-Schem HaMphoras« angebracht.
DDR Debatten über den Umgang mit der Skulptur gab es schon zu DDR-Zeiten. 1983 entschied der zuständige Kirchengemeinderat, das Relief an seinem Ort zu belassen. 1988 wurde eine Bronzeplatte samt einer von vielen als deplatziert empfundenen Inschrift in den Boden eingelassen.
»Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen«, ist dort eingraviert.
Erst 30 Jahre später kam noch eine Stelltafel mit weiteren Erläuterungen hinzu. Die umgangssprachlich als »Judensau« bezeichnete Skulptur blieb jedoch an ihrem angestammten Platz. Auch der Rat der Lutherstadt votierte 2017 für ihren Erhalt an der Stadtkirche. Das Ensemble aus Relief und Bodenplatte sei als Mahnmal zu verstehen und müsse heute in seinem historischen Kontext betrachtet werden.
klage Ein Bonner Jude legte vor dem Landgericht Dessau Klage ein und forderte die Entfernung der »Judensau«, wenigstens aber die Feststellung, dass das Objekt den Tatbestand der Beleidigung nach Paragraf 185 des Strafgesetzbuches erfülle. Doch das Gericht in Dessau als auch das Oberlandesgericht Naumburg wiesen die Klage ab.
Zwar sei das Wittenberger Relief ursprünglich als gezielte Verhöhnung von Juden gedacht gewesen. Es sei heutzutage aber mitsamt der Bodenplatte als Teil der Erinnerungskultur anzusehen, entschied seinerzeit das Gericht.
Zwar sei das Wittenberger Relief ursprünglich als gezielte Verhöhnung von Juden gedacht gewesen. Es sei heutzutage aber mitsamt der Bodenplatte als Teil der Erinnerungskultur anzusehen. Zudem bringe die nunmehr angebrachte Erklärtafel zum Ausdruck, dass sich die Kirche vom Antisemitismus Luthers und von der Schmähplastik distanziere.
Dem Kläger wollte die Begründung nicht einleuchten. Er zog vor den Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe. Dort wurde der Fall diese Woche verhandelt. Der Vorsitzende Richter Stephan Seiters machte klar: Für sich genommen sei das Wittenberger Relief »in Stein gemeißelter Antisemitismus«. Rechtlich gesehen müsse aber geklärt werden, ob man das Ensemble als ein Mahnmal ansehen könne.
Erinnerungskultur Die Anwältin der Kirchengemeinde sagte in der Verhandlung, man dürfe »die Erinnerungskultur nicht dem Zeitgeist opfern«. Es gebe zahlreiche Beispiele für Darstellungen, die aus heutiger Sicht nicht mehr zeitgemäß seien und womöglich aus Büchern und Filmen gestrichen werden müssten. »Wie sollen Kinder in der Schule etwas über die Diskriminierung von Juden lernen, wenn es dazu nichts mehr zu sehen gibt?«
Der Rechtsbeistand des Klägers warf der Kirchengemeinde vor, sich aus der Verantwortung zu stehlen: »Bei einer so schweren Beleidigung muss ich als Verantwortlicher mein Äußerstes tun, um die Wirkung zu beseitigen. Das hat die evangelische Kirchengemeinde nicht getan«.
Zudem sei die Darstellung von Juden als Schweine immer schon hetzerisch gemeint gewesen – und nicht erst heute. Der BGH will sein Urteil am 14. Juni verkünden. Schon jetzt erscheint fraglich, dass mit dem Spruch die Sache erledigt sein wird.
Kontext Für Wolfgang Schneiß, Antisemitismusbeauftragter in Sachsen-Anhalt, kann die Justiz den Fall jedenfalls nicht abschließend entscheiden. Ziel müsse vielmehr »eine zeitgemäße, für heute verständliche Kontextualisierung« antisemitischer Darstellungen sein.
Die Abnahme der Plastik hält Schneiß für einen Irrweg. Die umstrittene Umgestaltung des Ortes in den Achtzigern sei »gewiss Ergebnis ihrer Zeit, dabei aber auch des Mutes von Engagierten zu DDR-Zeiten und insoweit auch selbst schon wieder Teil der Rezeptionsgeschichte«.
Zentralratspräsident Josef Schuster fordert die Kirche auf, deutlich Stellung zu beziehen.
Auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland fordert die Kirche auf, deutlicher als bislang Stellung zu beziehen. Josef Schuster teilt aber die Auffassung, das umstrittene Werk an Ort und Stelle zu belassen. »Die antijudaistische Geschichte der Kirche lässt sich nicht ungeschehen machen. Daher ist die Anbringung einer Erklärtafel besser, als eine solche Schmähplastik einfach zu entfernen und damit zu verleugnen. Eindeutige Erläuterungen sind jedoch zwingend notwendig.«
schritte Die in Wittenberg bislang unternommenen Schritte überzeugten ihn aber nicht, im Gegensatz zu anderen Orten, so Schuster. Es sei Sache der Kirchen, den Umgang mit den Skulpturen zu finden.
Thomas Fischer, ehemaliger Vorsitzender Richter am BGH, sieht das anders. Die Justiz müsse in der Frage entscheiden. »Was eine Beleidigung im rechtlich erheblichen Sinn ist, weiß hierzulande nicht irgendeine Kirche, sondern der Staat«, sagte Fischer der Jüdischen Allgemeinen. Eine Klärung des Streits durch die Gerichte führe zwar nicht per se zu einer Befriedung. »Sie kann und soll aber den kommunikativen Konflikt rationalisieren«, findet der Strafrechtsexperte.
»Wer ›Arbeit macht frei‹ als provokative Beleidigung empfindet, hat vollständig recht. Wer das Tor mit der Aufschrift gleichwohl als ›Museum der Grausamkeit‹ erhalten und präsentieren will, hat ebenfalls recht«. Hier gebe es einen Interessenswiderspruch, so Fischer weiter.
standardweg Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, erklärte, einen Standardweg könne es nicht geben. »Ich würde mir wünschen, dass nicht Gerichte über die ›Judensau‹-Darstellungen befinden, sondern politisch-gesellschaftliche Lösungen gefunden würden. Gleichwohl begrüße ich das vom Kläger angestrengte Verfahren, da es Aufmerksamkeit für die Problematik schafft«, sagte Klein.
Für den Münchner Historiker Michael Wolffsohn zählt die Wittenberger »Judensau« zu den »größten Sauereien des diskriminatorischen Antisemitismus«. Sie habe sogar zur »Rechtfertigung des liquidatorischen Antisemitismus« gedient. Diese Tatsache gehöre zur deutsch-jüdischen Geschichte dazu.
Was in der Vergangenheit passiert sei, könne nicht einfach »abgehängt, abgebaut, weggewischt oder versteckt werden«. Nur Diktaturen versuchten das, so Wolffsohn. »Jeder sollte die ›Judensau‹ kennen, denn sie enttarnt die Unmenschlichkeit aller Judenfeinde.«