Neun Prozentpunkte zeigt der neue dunkelrote Balken. In einer bundesweiten Wahlumfrage von pollytix steht das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) bei dem doppelten Wert der Linkspartei. Jene kommt auf gerade mal vier Prozent und müsste um den Einzug in den Bundestag bangen, bliebe es bis im Herbst 2025 dabei. Gleiches würde für die FDP gelten. Auch im Wahltrend der INSA taucht das BSW mit sieben Prozent bereits merklich auf, laut den Umfragen von FORSA und Emnid zumindest noch mit drei Prozent. Was aber ist von der Partei für jüdisches Leben in Deutschland zu erwarten?
Verkürzung der Schoah
Da wäre zunächst einmal die Äußerung des ehemaligen Bundesfinanzministers auf dem ersten Parteitag des vorletzten Wochenendes. Oskar Lafontaine distanzierte sich von der AfD, allerdings nicht so sehr wegen der zuletzt ans Licht gekommenen völkischen Abschiebephantasien, sondern, weil die rechtsextreme Partei ihm zu israelsolidarisch sei: »Die AfD steht wie keine andere Partei an der Seite Israels in diesem Krieg gegen Gaza«, raunte Lafontaine, der zugleich der Ehemann der namensgebenden Vorsitzenden des Bündnisses ist. Israel begehe »ein Kriegsverbrechen, dass wir anklagen müssen, ohne jede Einschränkung«. Nicht nur ist die Verortung der AfD als geschlossen an der Seite Israels bestenfalls euphemistisch – Lafontaine positionierte mit seinem Statement darüber hinaus das BSW in Zeiten massiven israelbezogenen Antisemitismus als eine weitere antiisraelische Gruppierung.
Seine Rede auf dem Parteitag am 27. Januar nutzte er ferner, um zugleich die Schoah vorsichtig zu relativieren: Aufgrund der Schuld an der »Ermordung von sechs Millionen Juden« sei mindestens ebenso sehr, in Zahlen ausgedrückt sogar noch viel eher der »Ermordung von 27 Millionen Sowjetbürgern« zu erinnern. Seine Parallelisierung erfüllte einen genauen Zweck, nämlich die Verkürzung der Lehre aus der Schoa keineswegs auf ein »Nie wieder Antisemitismus«, sondern auf ein plumpes »Nie wieder Krieg« – vor allem nicht, so Lafontaine, gegen den russischen Staat von heute. Es erscheint ganz so, als seien die administrativ vernichteten Juden und Jüdinnen bloß einem solchen großen Krieg zum Opfer gefallen. Ganz ähnlich bezeichnete der AfD-Co-Vorsitzende Tino Chrupalla die pogromartig Ermordeten des 7. Oktober: als »Kriegstote«.
Lafontaine steht exemplarisch für den Kurs der Partei. Wer das nur vierseitige Parteiprogramm aufmerksam liest, wird ob einiger weiterer altbekannter Denkmuster fündig. Außenpolitisch gibt man sich als Friedenspartei, die sich nicht zu schade ist, trotz dessen Angriffskrieg »längerfristig auch Russland« als Bündnispartner zu verstehen. Die Aggressoren und ein bloßes »Machtinstrument« hingegen werden in der NATO und der transatlantischen Allianz ausgemacht.
Griff in die Kiste der antisemitischen Denkmuster
Doch damit nicht genug. Statt die widersprüchliche Rationalität der politischen Ökonomie zu problematisieren, raunt das Programm des BSW von »übermächtigen Finanzkonzernen« und »übergriffigen Digitalmonopolisten«, welche »die Demokratie zerstören« würden. Somit stünden jene den Interessen der Mehrheit und des Gemeinwohls entgegen. Das BSW hingegen, wie sollte es anders sein, vertritt diese eigentliche Mehrheit natürlich in Gänze.
Der sich sozialkritisch gebende Populismus bekommt seine besondere Note im letzten Absatz: Da gebe es einerseits »diejenigen, die sich anstrengen und gute, ehrliche und solide Arbeit leisten«, und andererseits die von »egoistischen Interessen« getriebenen »Spieler und Trickser«, welche »nur noch von der Motivation getrieben« seien, »aus Geld mehr Geld zu machen«. Diese für den deutschen Antisemitismus fundamentale Bildsprache des schaffenden gegen das raffende Kapital, der nützlichen gegen die parasitären Bürgerinnen und Bürger, findet im Wahlprogramm des BSW ihre zeitgenössische Übersetzung. Schon mehrmals hat so manchem politischen Bündnis in Deutschland eben dieses Denkmuster zur Seite gestanden, das sich ebenfalls nationale Stärke wie die soziale Vertretung des Gemeinwohls auf die Fahne geschrieben hatte. Zusammengerechnet mit der AfD ergeben sich in den aktuellen Umfragen knapp 30 Prozent jenes autoritären Populismus. Um die Demokratie steht es bei solchen Sozialkritikerinnen und Sozialkritikern schlecht. Und damit vor allem auch um das Leben von Jüdinnen und Juden in der Bundesrepublik.
Der Autor ist Student und Mitglied in der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover.