Einer der klügsten Prosatexte aller Zeiten ist ein Märchen von Hans Christian Andersen. Des Kaisers neue Kleider erzählt von einem ebenso eitlen wie dummen Monarchen, dem zwei Betrüger einen imaginären Ornat überziehen, mit dem der Potentat durch die Stadt paradiert. Sein Stolz auf die fantasierten Gewänder überträgt sich auf die Untertanen: Die kriegen sich nicht ein vor lauter Bewunderung. Bis ein kleines Kind den kollektiven Wahn zum Platzen bringt: »Er hat ja gar nichts an!«
glaubenssatz Der New Yorker Theatermacher Tuvia Tenenbom ist vom gleichen Schlag wie Andersens Kind. Scheinbar naiv ist er durch Deutschland gereist, hat dabei festgestellt, dass Antisemitismus hier wächst, blüht und gedeiht, und daraus ein Buch gemacht, das dieser Tage für Furore sorgt. Allein unter Deutschen, so der Titel, widerlegt nämlich den nationalen Glaubenssatz, wonach die Bundesbürger neu und alt aus der Geschichte gelernt und Judenhass in einem Akt des kollektiven Exorzismus aus der Volksseele heraustherapiert haben.
Doch Tenenbom ist Amerikaner und hat dieses Dogma nicht verinnerlicht (anders als manche deutsche Juden, übrigens). Er hat aufgeschrieben, was er gesehen, gehört und erlebt hat: Der Kaiser ist nackt, und viele Deutsche sind Antisemiten.
Hier endet allerdings die Parallele zum Märchen. Dort merken die Menschen, dass ihr Fürst nichts anhat. In Deutschland aber hält man an der kollektiven Selbsttäuschung erst recht fest, wenn sie aufgedeckt ist. »Hat der Amerikaner Tenenbom recht mit seinem Befund?«, fragte Spiegel Online und antwortete selbst: Alles halb so schlimm! Als Kronzeuge gab mit Micha Brumlik ein leibhaftiger Jude zu Protokoll, dass ihn die Sarrazin-Debatte mehr umtreibt.
Den ultimativen Kommentar zu dieser Art Beschwichtigungsdiskurs hat vor Jahren die Satirezeitschrift »Titanic« abgegeben, mit der Schlagzeile: »Schrecklicher Verdacht: War Hitler Antisemit?« Wir freuen uns derweil auf die nächsten großen deutschen Debatten: »Wird man bei Regen nass?« und »Ist der Papst katholisch?«.