18 der 27 der EU-Mitgliedsstaaten haben bereits die rechtlich nicht bindende Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) angenommen oder planen diesen Schritt. Am Freitag wurde nun ein von der EU-Kommission in Auftrag gegebenes Handbuch vorgestellt, das die praktische Anwendung des Regelwerks der IHRA erleichtern soll.
ALLTAGSLEBEN Die 2016 von der IHRA (einem im Jahr 2000 gegründeten Zusammenschluss von 34 Ländern) vorgelegte Definition enthält neben einer allgemein gehaltenen Erklärung des Antisemitismus auch konkrete Beispiele für Judenhass. Ziel ist es zu helfen, antisemitische Erscheinungen in verschiedenen Alltagskontexten zu erkennen: im öffentlichen Leben, in den sozialen Netzwerken, an Schulen, am Arbeitsplatz, in den Medien und im religiösen Leben.
Das Handbuch erläutert und veranschaulicht alle Dimensionen der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus anhand von 22 antisemitischen Vorfällen und Straftaten in ganz Europa. Es basiert auf 71 Datensätzen aus den 27 EU-Mitgliedstaaten sowie dem Vereinigten Königreich und präsentiert zudem 35 Beispiele für die Anwendung der Definition in den Bereichen Strafverfolgung, Justiz, Bildung, staatliche Förderung, Sport und Zivilgesellschaft.
»Das neue Handbuch verdeutlicht mit praktischen Beispielen, wie dringlich die umfassende Bekämpfung des Antisemitismus in Europa ist.«
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden
Dafür wurden die Expertise von Vertretern der Zivilgesellschaft, Mitgliedern der Arbeitsgruppe Antisemitismus der Europäischen Kommission sowie Experten der IHRA und der EU-Grundrechteagentur FRA eingeholt.
Kommissionsvizepräsident Margaritis Schinas erklärte, das neue Handbuch mache es für alle einfacher, der Verpflichtung zum Kampf gegen den Judenhass nachzukommen. »Es entspricht dem Wunsch unserer Mitgliedsstaaten nach einem besseren Wissensaustausch über die Anwendung der IHRA-Definition. Das Handbuch wird ein weiteres wertvolles Instrument für die Mitgliedstaaten sein, um die bahnbrechende Erklärung des Rates zur Bekämpfung von Antisemitismus wirksam umzusetzen«, sagte der für das Thema zuständige Kommissar. Die Kommission plant, noch in diesem Jahr eine umfassende EU-Strategie gegen Antisemitismus zu verabschieden.
RIAS Der neue Leitfaden enthält unter anderem Empfehlungen für die Ausbildung von Polizisten, die Erfassung und Einordnung von Hasskriminalität, einen Verhaltenskodex für Universitäten, Materialien für die Schulung und Weiterbildung von Lehrern und auch die Erfassung antisemitischer Vorfälle im Internet.
Das von der EU-Kommission in Auftrag gegebene und gemeinsam mit der IHRA herausgegebene Handbuch wurde vom Bundesverband RIAS erarbeitet. Dessen Geschäftsführer Benjamin Steinitz erklärte, die konsequente Anwendung der Antisemitismusdefinition in der Ausbildung von Polizei und Justiz sowie von Lehrkräften und anderem Personal des öffentlichen Dienstes würde »die Sensibilität für aktuelle Erscheinungsformen von Antisemitismus verbessern und so einen gemeinsamen Bezugsrahmen mit den jüdischen und zivilgesellschaftlichen Wahrnehmungen von Antisemitismus herstellen«.
Auch die Vorsitzende der IHRA, die deutsche Diplomatin Michaela Küchler, lobte die Definition. Diese habe »vor allem unter politischen Entscheidungsträgern das Bewusstsein« für die Gefahr geschärft, die vom Antisemitismus ausgehe. Es bleibe jedoch noch viel zu tun, um sowohl Institutionen als auch Einzelne mehr zu sensibilisieren, so Küchler. Bislang ist das Handbuch nur auf Englisch verfügbar, es soll aber in den kommenden Monaten in alle EU-Sprachen übersetzt werden.
Die Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission, Katharina von Schnurbein, gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass das neue Handbuch »auf ganz praktische Weise helfen wird, was die Prävention und Reaktion auf antisemitische Vorfälle, aber auch Opferschutz, Datenerhebung oder die Wahrnehmung von antisemitistischer Ressentiments betrifft.«
Ziel sei es, gute Herangehensweisen in einzelnen Mitgliedsstaaten der EU deutlicher hervorzuheben. Das könne den jüdischen Gemeinden dann auch im öffentlichen Diskurs helfen, glaubt von Schnurbein.
JUSTIZ Lob für das Handbuch kam vom Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. »Das neue Handbuch verdeutlicht mit praktischen Beispielen, wie dringlich die umfassende Bekämpfung des Antisemitismus in Europa ist. Zugleich wird die häufig etwas abstrakte Debatte über die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus damit greifbar. Im Kampf gegen Antisemitismus ist damit ein wichtiger Schritt getan«, sagte Josef Schuster dieser Zeitung.
Der Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses, Moshe Kantor, erklärte: »Dieses Dokument bringt die IHRA-Definition endlich in den Bereich der praktischen Anwendung. Jedes der Beispiele der Definition wird durch real dokumentierte antisemitische Vorfälle in Europa veranschaulicht, so dass sie wesentlich mehr ist als bloße Theorie.« Kantor zeigte vor allem auf Versäumnisse im Bereich von Polizei und Justiz. »Wir haben seit vielen Jahren auf das Problem aufmerksam gemacht, dass Staatsanwälte und Polizeibeamte nicht in der Lage sind, antisemitische Vorfälle richtig zu identifizieren«.
Schleswig-Holsteins Antisemitismusbeauftragter, der frühere Ministerpräsident Peter Harry Carstensen, sagte, das Handbuch weise bereits gute Ansätze aus Deutschland auf. So sei die Arbeitsdefinition der IHRA bereits in der Ausbildung an der Bundespolizeiakademie Bestandteil und auch die Hochschulrektorenkonferenz setzt sich für eine Anwendung an allen Hochschulen ein.
»Ich bin dankbar für dieses Projekt, denn das Handbuch macht uns deutlich, dass es auch einer gemeinsamen Strategie im Kampf gegen Antisemitismus bedarf. Handlungsbeispiele aus den einzelnen Mitgliedstaaten können gute Ideen für eigene Arbeitsfelder liefern. Wir werden diese Broschüre mit seinen guten Beispielen zur Anwendung der Arbeitsdefinition weiter prüfen und auf entsprechende Akteure in Schleswig-Holstein zu gehen, um für die Anwendung dieser Arbeitsdefinition und seiner guten Beispiele zu werben und somit ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen«, so Carstensen.