Gedenken

Anhaltende Verstörung

Brennende Synagoge: der 9. November 1938 in Bielefeld Foto: dpa

Das Gedenken am 9. November ist verstörend. Viele Gefühle mischen sich in der Erinnerung an die Verstorbenen und Ermordeten, an die Opfer des Nationalsozialismus: Trauer und Wut, Verzweiflung und Schmerz, Angst und Einsamkeit. Was unsere Gefühle von denen unterscheidet, die wir so oder ähnlich auch aus anderen Situationen kennen, ist die tiefe, leere Verstörung.

Eine Verstörung, die der »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) des Nationalsozialismus ausgelöst hat durch seine kalte, leere, zugleich kitschige, brutale und barbarische Wirklichkeit der antisemitischen Vernichtung. Einer Vernichtung, die nicht erst in den Konzentrationslagern oder im Vernichtungskrieg von Wehrmacht und SS anfing, sondern die sich bereits mit dem Aufkommen der NS-Bewegung in den 20er-Jahren und mit der von der politischen Mitte goutierten Machtübernahme Hitlers abzeichnete und mit der ersten politischen Maßnahme des NS-Regimes begann. Davon konnte man am 9. November 1938 schon lange wissen, ja, musste es wissen.

spur Diese Verstörung ist eine, die als leise Spur die Geschichte der Bundesrepublik durchzieht, vielen Debatten unterliegt, auch wenn diese vordergründig ganz andere Themen zu haben scheinen – politische, soziale, ökonomische, aber auch kulturelle. Und: Die Verstörung ist allgegenwärtig; gerade dann, wenn sie am meisten geleugnet, verdrängt, verneint wird, ist sie am präsentesten.

Der Antisemitismus in Deutschland hat ein erschreckendes Ausmaß angenommen – im Hier und Jetzt. Er wird heute wieder artikuliert, nicht nur am rechten Rand, sondern in den Feuilletons großer Tageszeitungen, den Online-Plattformen von Nachrichtenmagazinen. Der verbale Angriff hat längst begonnen.

umweg Der Antisemitismus, der sich heute oft auf einem Umweg nicht zuerst gegen die Juden in Deutschland richtet, sondern gegen Israel, ist der schmerzendste Ausdruck der Unwilligkeit und der Unfähigkeit, die eigene Vergangenheit als eine Vergangenheit der unerträglichen Verstörung aufzuarbeiten. Wenn heute wieder vor Geschäften ein antisemitischer Boykott gefordert wird, verlogen kaschiert als Boykott israelischer Waren, dann ist es ganz nah: das Novemberpogrom des Nationalsozialismus. Nicht, dass ich sagen wollte, die Handvoll Verrückter, die einen solchen Boykott fordert und die mit NS-Schildern zum Verwechseln ähnlich sehenden Plakaten vor Geschäften steht, hätte eine ernst zu nehmende Macht oder gar Einfluss.

Aber zwingt das dazu, diese Form der Erinnerungsbarbarei ertragen zu müssen? Erlaubt es, sich vor ihr wegzuducken? Eine Demokratie ist nur so stark, wie es ihr gelingt, ihre Feinde auch zu bekämpfen – der Nationalsozialismus war auch eine kleine Bewegung, zunächst eine von den etablierten Kreisen belächelte Handvoll Verrückter, ohne Macht und Einfluss.

dagegensein Wo die Weimarer Demokratie noch versagte, hat die Bundesrepublik Möglichkeiten, haben wir alle Möglichkeiten, den ganz offenen, alltäglichen Antisemitismus, der die Maßnahmen plagiiert, die zum 9. November führten, zu bekämpfen. Es geht hier nicht um ein trotziges »Wehret den Anfängen!« – denn es hat nie aufgehört. Es geht um ein: »Fangt endlich an, wirklich dagegen zu sein!« – und zu ertragen, dass zu diesem Dagegensein auch gehört, schmerzhafte eigene Erinnerungen aushalten zu müssen.

Man muss auch die eigene Verstörung ertragen lernen, um angemessen und adäquat neue Verstörungen wahrnehmen zu können. Wer nur um sich selbst kreist, ohne das Epizentrum seines Problems sehen zu wollen, wird immer weiter kreisen. Das Problem heißt, gestern wie heute, Antisemitismus. Und man kann aus dem Gestern nichts lernen, man kann es nur zulassen und ertragen.

keller Zulassen, wie den Gang in den eigenen dunklen Keller, in den zu gehen man sich fürchtet – wie in der Psychoanalyse das Verhältnis zum Unbewussten und Verdrängten veranschaulicht wird. Ohne den Keller steht das Haus nicht – ohne die Verstörung ist auch die Gegenwart nicht zu haben. Wer sich nicht erinnert, wer nicht trauert, wer das Leid nicht auszuhalten bereit ist, wird es immer weiter ertragen müssen. Und, was noch schlimmer ist: Er wird sich zum Mitwisser des gegenwärtigen Antisemitismus machen, vor dessen historischem Schuldeingeständnis er immerzu fortläuft.

Ohne Demut, ohne Schuldeingeständnis, ohne den Schmerz der Erinnerung wird ein Ort ohne Verstörung nicht zu haben sein, bleibt er negativ – aber zumindest ohne Konkretisierung auch gerade jenen verschlossen, die sich dem echten Schmerz verweigern.

Ein Gedenken wie an diesem 75. Jahrestag der Pogrome vom 9. November 1938 wird oft verbunden mit positiven Appellen. Es kann ein Anfang sein, dies zu unterlassen – und bei der Verstörung zu verweilen, im Gedenken an die Menschen, die nicht die Verstörung, sondern die Barbarei erleiden mussten, an ihr zugrunde gegangen sind. Einmal kein: »Ja, aber«.

Der Autor ist Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen.

Kommentar

Erdoğans Vernichtungswahn ist keine bloße Rhetorik

Der türkische Präsident hat nicht nur zur Auslöschung Israels aufgerufen, um von den Protesten gegen ihn abzulenken. Deutschland muss seine Türkeipolitik überdenken

von Eren Güvercin  01.04.2025

Essay

Warum ich stolz auf Israel bin

Das Land ist trotz der Massaker vom 7. Oktober 2023 nicht zusammengebrochen, sondern widerstandsfähig, hoffnungsvoll und vereint geblieben

von Alon David  01.04.2025

USA

Grenell könnte amerikanischer UN-Botschafter werden

Während seiner Zeit in Berlin machte sich Grenell als US-Botschafter wenig Freunde. Nun nennt Präsident Trump seinen Namen mit Blick auf die Vereinten Nationen. Aber es sind noch andere im Rennen

 01.04.2025

Literatur

Schon 100 Jahre aktuell: Tucholskys »Zentrale«

Dass jemand einen Text schreibt, der 100 Jahre später noch genauso relevant ist wie zu seiner Entstehungszeit, kommt nicht allzu oft vor

von Christoph Driessen  01.04.2025

Judenhass

Todesstrafen wegen Mordes an Rabbiner in Emiraten

Ein israelischer Rabbiner wurde in den Vereinigten Arabischen Emiraten getötet. Der Iran wies Vorwürfe zurück, die Täter hätten in seinem Auftrag gehandelt. Drei von ihnen wurden zum Tode verurteilt

von Sara Lemel  31.03.2025

Vereinten Nationen

Zweite Amtszeit für notorische Israelhasserin?

Wird das UN-Mandat von Francesca Albanese um drei Jahre verlängert? Das Auswärtige Amt drückt sich um eine klare Aussage

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Meinung

Marine Le Pen: Zu Recht nicht mehr wählbar

Der Ausschluss der Rechtspopulistin von den Wahlen ist folgerichtig und keineswegs politisch motiviert

von Michael Thaidigsmann  31.03.2025

Essay

Dekolonisiert die Dekolonialisierung!

Warum die postkoloniale Theorie jüdische Perspektiven anerkennen muss

von Lisa Bortels  31.03.2025

Türkei

Erdoğan: »Möge Allah das zionistische Israel zerstören«

Ein antisemitisches Statement von Präsident Recep Tayyip Erdoğan löst einen Streit mit dem jüdischen Staat aus

 31.03.2025