Als ich vor 40 Jahren als »Gastarbeiterkind« nach Österreich kam, gab es in diesem Land (nicht anders als in Deutschland) eine klare Ausländerhierarchie: Gut ausgebildeten, privilegierten Ausländern aus westlichen Ländern begegneten die Inländer auf Augenhöhe. Flüchtlinge und Zuwanderer aus Osteuropa standen eine Stufe tiefer. Nach ihnen kamen Gastarbeiter aus Jugoslawien und schließlich, auf der untersten Stufe, jene aus der Türkei. Juden (aus dem In- und Ausland) waren in der Hierarchie ebenfalls weit unten, nur dass darüber nie gesprochen, sondern stattdessen vielsagend geschwiegen wurde.
Heute ist manches anders, tendenziell jedoch den Zuständen von damals nicht unähnlich. Die Freizügigkeit, welche EU-Bürger aus Rumänien und Bulgarien seit Beginn dieses Jahres in der gesamten Union genießen, hat in Deutschland eine Debatte um die angeblich bevorstehende Zuwanderung von Armutsmigranten ausgelöst, die nicht der Arbeit, sondern der Sozialleistungen wegen ins Land kommen. Wirtschaftsfachleute und Unternehmer beteuern hingegen, ausgebildete Arbeitskräfte aus Rumänien und Bulgarien seien willkommen und würden gebraucht.
lohndumping Vor Lohndumping und der »Zuwanderung in die Sozialsysteme« wird auch in Österreich – vor allem seitens der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei – gewarnt, obwohl dort der Zugang zu Sozialleistungen für Ausländer erheblich schwieriger ist als in Deutschland. »Rechtslastige« Äußerungen bestimmter Politiker gehören in Österreich allerdings leider zum Alltag. Sie lösen Widerspruch aus, regen aber kaum mehr jemanden auf. Die Debatte in Deutschland mutet von dort aus betrachtet wie ein Sturm im Wasserglas an.
Wenn man die EU wirklich als gemeinsamen Wirtschaftsraum und als politische Union versteht, muss man es als Selbstverständlichkeit ansehen, dass etwas passiert, was innerhalb der sogenannten Nationalstaaten immer schon gang und gäbe war: die Abwanderung aus strukturschwachen in reichere Regionen, eine Migration, die nur durch eine positive Entwicklung in ärmeren Regionen gestoppt werden kann. Dass die EU-Kommission den Ausschluss vieler EU-Ausländer von Hilfen im deutschen Sozialrecht bemängelt, ist demzufolge naheliegend.
hierarchien Es geht um Gleichbehandlung, und es geht, wie schon eingangs erwähnt, um Hierarchien, die einer Gleichbehandlung im Wege stehen. Das Herkunftsland oder die ethnische Zugehörigkeit spielen hierbei eine geringere Rolle als früher. Trotz des immer stärker werdenden Rechtsradikalismus, der fast überall in Europa zu beobachten ist, und der nie abreißenden Islamismusdebatte scheint die Mehrheit der deutschen Bevölkerung einer geregelten Zuwanderung positiv gegenüberzustehen.
Nach einer ARD-Umfrage sind 68 Prozent der Deutschen der Meinung, dass die deutsche Wirtschaft qualifizierte Arbeitskräfte aus anderen Ländern benötigt. Das Wort »qualifiziert« ist dabei von entscheidender Bedeutung: Damit meint man Menschen, die in kurzer Zeit Arbeit finden, vor allem aber Umgangs- und Verhaltensformen pflegen, die in der Global Community der gut Ausgebildeten üblich oder zumindest akzeptabel sind. Der iranische Arzt, die philippinische Krankenschwester oder der chinesische Restaurantbesitzer sind einem Durchschnittsdeutschen aus dem Mittelstand näher und vertrauter, irritieren und stören weniger als ein deutscher Sozialhilfeempfänger aus der Unterschicht oder gar eine Roma-Bettlerin aus Rumänien, die mit ihren Kindern in unser Sozialsystem »einwandert«.
Nicht so sehr die Tatsache, solchen Menschen den Unterhalt aus Steuergeldern finanzieren zu müssen, empört, sondern die Angst, ihnen im Alltag begegnen zu müssen. Das eigentliche Thema bei der gegenwärtigen Debatte ist demnach weniger die Zuwanderung als die Frage: Wie gehen wir, gesamteuropäisch betrachtet, mit Armut um und darüber hinaus – welches Bild des »Anderen« gibt unsere Gesellschaft vor?
anpassungsdruck Der Anpassungsdruck ist heute stärker als vor 20 oder 30 Jahren. Viele junge, gut ausgebildete Menschen leben zwar in einer Welt, die scheinbar offener und freier ist als früher, sind aber mit viel mehr Unsicherheiten konfrontiert. Umso mehr orientieren sie sich an einer Norm, die in Aussehen, Kleidung und Verhalten Makellosigkeit und Coolness suggeriert und Perfektion einfordert. Wer in irgendeiner Form anders ist, gehört nicht dazu, wer arm ist, kann diesen Anforderungen ohnehin nicht entsprechen, stört das Straßenbild, erinnert an die eigenen Unzulänglichkeiten und weckt die Angst, vielleicht selbst einmal zu den Verlierern zu gehören.
Ängste dieser Art und der Druck, einer bestimmten Norm entsprechen zu müssen, haben in der Geschichte aber schon oft in die Barbarei geführt. Dies sollten gerade die jüdischen Bürger in Deutschland und in Österreich nicht vergessen. Sie sollten sich für eine Gesellschaft einsetzen, in der die Armutsbekämpfung und nicht die Armutsabwehr als humanistisches Leitbild dient, an dem sich diese Gesellschaft orientiert.
Der Autor, geboren 1966 in Leningrad, ist Schriftsteller und lebt in Salzburg.