Meinung

Angst um die Demokratie

Der Mangel an Transparenz ist einer der Gründe, weshalb jede Woche Hunderttausende auf die Straße gehen, um ihren Unmut kundzutun. Foto: Flash 90

»Ha’Am bachar – das Volk hat gewählt.« Das ist der Slogan der israelischen Regierung, um ihre umstrittene Gesetzgebung zu verteidigen. Es ist nicht nur die rechteste und religiöseste Koalition seit der Staatsgründung, sondern auch eine der geheimniskrämerischsten. Am Montag stimmte sie geschlossen für das Kernelement der höchst umstrittenen Justizreform. Im Anschluss kündigte sie bereits die nächsten Schritte an. Worum es sich dabei genau handelt, ließ sie offen.

Der Zugang zu Informationen jedoch ist von entscheidender Bedeutung für Bürger, um politische Entscheidungen zu treffen. Das Recht auf Information ist in mehreren internationalen Abkommen verankert. Die Parteien, die jetzt die Regierungskoalition stellen, hätten während des Wahlkampfes darüber informieren können oder spätestens seit Amtsübernahme vor mehr als einem halben Jahr.

informationsfetzen Doch was veröffentlicht wird, sind nicht mehr als Informationsfetzen. Genau diese Verheimlichung ihrer Pläne macht die Regierungskoalition für viele Israelis unglaubwürdig. Der Mangel an Transparenz ist einer der Gründe, weshalb jede Woche Hunderttausende auf die Straßen gehen, um ihren Unmut kundzutun.

Einige der Abgeordneten und Minister bezeichnen die Demonstrationen als »Tyrannei der Minderheit«.

Einige der Abgeordneten und Minister bezeichnen die Demonstrationen als »Tyrannei der Minderheit«. Eine Demokratie indes lebt von der Akzeptanz der Andersdenkenden. Die Mehrheit muss Kritik, Proteste und Widerworte aushalten, sofern sie gewaltfrei sind. Und das sind sie im ganzen Land bis auf sehr wenige Ausnahmen seit 30 langen Wochen.

Viele der Demonstranten haben große Angst davor, bald nicht mehr in einem demokratischen Staat zu leben. »Wer schützt uns?«, fragen sie. Denn die zwölf existierenden Grundgesetze, die auch die Menschenrechte definieren, können mit einer einfachen Mehrheit im Parlament geändert werden. Wer garantiert, dass nicht auch sie auf der Agenda der »Justizreform« stehen? Durchgesetzt wurden die Grundgesetze seinerzeit übrigens in breitem Konsens mit allen Parteivorsitzenden – aus Koalition und Opposition.

machtmissbrauch Die Gefahr eines Machtmissbrauchs der Mehrheit auf Kosten der bei demokratischen Wahlen unterlegenen Minderheiten gibt es in jeder Demokratie. Um das zu verhindern, haben echte Demokratien Kontrollmechanismen. Eine Verfassung, ein unabhängiges Gerichtssystem, Föderalismus, zwei Kammern im Parlament und anderes.

Der Oberste Gerichtshof schützt die Demokratie. Nun soll er massiv geschwächt werden.

In Israel schützt einzig das Justizsystem, allen voran der Oberste Gerichtshof, die Werte und den demokratischen Charakter des Landes. Und gerade der soll mit der Gesetzgebung entmachtet oder zumindest massiv geschwächt werden. Dass die Richter des Obersten Gerichtshofs vielleicht zu einmischungsfreudig sind und es einer Reform bedarf, bestätigen Experten. Derart grundlegende Änderungen aber brauchen eine Übereinstimmung aller Parteien.

Die Worte von Finanzminister Bezalel Smotrich, Chef der Rechtsaußen-Partei Religiöser Zionismus, unmittelbar nach der Abstimmung sollten versöhnlich klingen. Er fühle den Schmerz der Andersdenkenden »wirklich«, sagte er. Man solle die kommenden Gesetzesentwürfe »wirklich« gemeinsam debattieren.

pressefreiheit Doch welche kommenden Gesetzesentwürfe? Welche weiteren Teile der Reform? Journalisten und Experten wissen es ebenso wenig wie die Bevölkerung in Israel. Justizminister Yariv Levin stellte kurz nach Amtsübernahme seine jetzige Reform als »ersten Abschnitt von vier« vor. Seitdem sickert kaum mehr etwas aus den Büros der Regierung an die Öffentlichkeit. Was steht in Teilen zwei, drei und vier des Pakets? Dass die Pressefreiheit nicht so wichtig ist? Dass die Rabbinate exorbitant mehr Einfluss erhalten? Dass das Wahlrecht »reformiert« wird?

Die Ungewissheit im Hinblick auf das, was Israels Charakter bestimmt, bringt viele Israelis um den Schlaf. Und zerstört währenddessen den Zusammenhalt, der für diese heterogene Gemeinschaft in meist feindlichem Territorium lebensnotwendig ist. Besonders, aber nicht nur, im Hinblick auf die Armee des Volkes.

Der jüdische Staat hat sich seit seiner Gründung als liberale Demokratie nach westlichem Muster definiert.

Der jüdische Staat hat sich seit seiner Gründung als liberale Demokratie nach westlichem Muster definiert. Nicht quasi und nicht nur auf dem Papier. Die Staatsorgane sind nach den Grundsätzen der Gewaltenteilung voneinander getrennt. Der jetzige Premierminister Benjamin Netanjahu hat oft und gern persönlich hervorgehoben, wie bedeutend Israel als »einzig echte Demokratie in Nahost« sei.

versprechen Doch dafür bedarf es mehr als nur Wahlen alle vier Jahre. Regelmäßige Abstimmungen gibt es auch in Staaten, die niemand jemals als »echt demokratisch« bezeichnen würde. Ja, diese Regierung ist legitim gewählt worden und verfügt über die Mehrheit der Sitze in der Knesset. Doch ihr Versprechen, dass ihre umfassenden Gesetzesänderungen die »Demokratie schützen, statt ihr zu schaden«, reicht nicht aus.

»Ha’Am lo jada – Das Volk hat nichts gewusst«, kontert die Protestbewegung den Slogan der Regierung. Der Großteil der Gesetzgebungspläne war und ist bis heute nicht bekannt. Das haben sogar Mitglieder der Koalition zugegeben. Transparenz ist allerdings essenzielles Merkmal von Demokratien. Alles andere schlittert gefährlich in die Nähe einer Tyrannei der Mehrheit. Denn Demokratie endet nicht mit Wahlen.

Die Autorin ist Israel-Korrespondentin der Jüdischen Allgemeinen und lebt in Tel Aviv.

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